Das alte Kind
Schlafzimmer.
»War nett, sich nach so langer Zeit mit dir zu unterhalten. Das sollten wir wieder tun!«, schrie sie ihm hinterher.
19.
Wie war es eigentlich so weit gekommen, fragte sich Fiona, als sie in ihrem Zimmer in Dr. Lloyds Klinik saß und aus dem Fenster in die Dunkelheit starrte. Damals die Aktion auf der North Bridge, die ihr diese seltsame Berühmtheit eingebracht hatte. Weshalb Poster und Postkarten von ihr im Zimmer vieler Kunststudenten hingen, auf denen sie die Arme ausgebreitet hatte wie der »Angel of the North« an der A1 bei Gateshead. »Angel of Scotland« hatten die Zeitungen sie genannt, der Vergleich mit dem rostigen Ding schwang für immer mit.
War es die Einsamkeit gewesen, die sie in ihrem Leben verspürt hatte, seit ihre Mutter, die gar nicht ihre Mutter war, gestorben war? Doch Moment, wenn sie ehrlich war, stimmte das so nicht. Es war eine Erklärung, die sich mit den Jahren eingeschlichen hatte. Aber dieses Gefühl von Leere und Einsamkeit hatte sie nicht erst mit dreizehn verspürt. Sondern schon viel früher. Wenn sie also ganz ehrlich war, war es schon immer Roger gewesen, der sich um sie gekümmert hatte. Was hatte Victoria in dieser Zeit getan, wenn sie mit Roger über die Felder und Wiesen spaziert war, um Blumen zu pflücken, Vögel zu entdecken, Schmetterlinge zu jagen? Wo war sie gewesen, wenn die beiden am Strand entlangliefen oder mit dem Auto über die Forth Road Bridge fuhren, um einen Tag in Fife zu verbringen? Keine Victoria, keine Erklärungen. Sie hätte ein Papakind sein müssen und war es doch nie geworden, vielleicht, weil Roger sie letztlich doch nicht behandelt hatte wie eine eigene Tochter. Er hatte ihr zu viel durchgehen lassen, zu viel erlaubt, so wie man es bei einem Kind tat, das nur zu Besuch war. Vielleicht hatte er die Distanz nie überwinden können, die ihm das Wissen bescherte, dass Fiona nicht seine leibliche Tochter war. Für ihn war sie doch der lebende Beweis gewesen, dass Victoria, seine Angebetete, seine große und einzige Liebe, mit einem anderen geschlafen hatte. Wie also hätte er sie je uneingeschränkt lieben können?
Wie hätte Victoria sie lieben können, wo sie doch gar nicht ihre Tochter war? Die eigene Tochter weggeben, weil sie krank war. Kann eine Mutter so etwas verdrängen? Kann sie nicht. Sie bringt sich irgendwann um. Ihre Schuldgefühle bringen sie irgendwann um.
Ausgerechnet im September 1991 hatte sie sich umgebracht. Im September 1991 war ihre richtige Tochter gestorben. Fiona hatte es auf Carla Arnims Homepage erfahren. Dann hatte Victoria also gewusst, bei wem ihr Kind aufgewachsen war. War es ihr Plan gewesen, Fiona zu stehlen, ausgerechnet Fiona? Hatte sie sich die Arnims ausgesucht, um ein »perfektes« Kind zu bekommen? Oder war ihr jedes gesunde Mädchen, das etwa im gleichen Alter war wie ihr Kind, recht gewesen? Auf diese Fragen gab es keine Antworten mehr. Victoria war tot. Roger war nicht eingeweiht. Und dieser Chandler-Lytton war verschwunden. Ben hatte sie vor einer halben Stunde angerufen. Es hatte ihn beinahe das Leben gekostet. Fiona schauderte.
»Wenn der schottische Anwalt, den ich seit Neustem habe, nicht so hervorragende Verbindungen zur englischen Staatsanwaltschaft hätte, wüssten wir nichts. Aber so: Er ist zusammen mit seiner Frau über London nach Toronto geflogen, dort verliert sich seine Spur. Es tut mir leid.«
Abgehauen, der Feigling. Aber er war sowieso nicht mehr interessant. Jetzt, da sie wusste, wer ihre Eltern waren.
Nachdem Ben letzte Nacht gefahren war, hatte sie mit Patricia im Netz rumgesurft. Carla Arnim, einst eine Berliner Societygröße. Jüdin, in den USA geboren. Leitete nach dem Tod ihrer Eltern ein namhaftes Auktionshaus, daran angeschlossen mehrere Galerien. War verheiratet mit dem weltweit bekannten Pianisten Frederik Arnim. Die Ironie daran war, dass nicht nur Victoria damals das Schicksal der Arnims verfolgt hatte. Fiona hatte sich während des Studiums mit dem Auktionshaus Mannheimer-Arnim beschäftigt. Das Privatleben der Arnims war damals nicht von Interesse gewesen, nur die Ausstellungen und Auktionen. Und sie besaß CDs von Frederik Arnim. Wer nicht. Unter anderem eine Einspielung aus den siebziger Jahren: das Gesamtwerk Haydns.
Sie erinnerte sich schwach an Frederik Arnims Auftritte vor zwanzig Jahren, zu denen er seine kranke Tochter stets mitgenommen hatte. Roger hatte Fiona damals die Augen zugehalten. »Sieh nicht hin«, hatte er gesagt. »Du bekommst
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