Das alte Kind
Albträume.« Aber sie hatte hingesehen, jedes Kind hätte hingesehen, und sie hatte es nicht schlimm gefunden. »Das ist aber ein altes Kind«, hatte sie gesagt, und Roger war aufgestanden, um den Fernseher auszuschalten. Ein paar Jahre später dann war sie in einem Second-Hand-Shop auf das Plakat einer Stiftung aufmerksam geworden: Frederik Arnim rief zusammen mit einem amerikanischen Arzt, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte, zu Spenden auf, um die Forschung zu unterstützen, die die Krankheit untersuchte, an der seine Tochter litt. Den Namen der Krankheit hatte sie sich ebenfalls nicht gemerkt. Aber da war es wieder gewesen, das Gesicht des Kindes, das sie im Fernsehen gesehen hatte: das Gesicht des alten Kindes. Und nein, sie hatte nie auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt, nie etwas Besonderes gespürt. Genauso gut hätte Mel Gibson ihr Vater sein können. (So gesehen war Frederik Arnim dann vielleicht doch nicht die schlechteste Wahl.) Arnim hatte nie nach seiner Tochter gesucht. Für ihn war das alte Kind seine Tochter gewesen.
Ihre Eltern also: ein Weltklassepianist und eine Kunstauktionatorin. Waren das Eltern, wie Fiona sie sich heimlich gewünscht hätte? Statt einem Schulleiter und einer Medizinerin? Ja, Frederik und Carla Arnim, Musik und Kunst, was wäre das für ein Leben gewesen! Es hörte sich an wie ein Paradies. Ein Leben in der Berliner Oberschicht. Die Kunstszene bei einem zu Hause. Zu Hause: eine große Villa irgendwo dort, wo in Berlin die großen Villen stehen. Das wäre mein Leben gewesen, dachte sie. Dort hat mich Victoria rausgerissen, weil sie von einem perfekten Kind träumte. Und was bekam sie? Ein neurotisches Etwas, mit dem sie nicht klarkam. Sie hatte eine liebende Mutter verloren, die bis zum heutigen Tag nach ihr suchte, und dafür Victoria bekommen. Victoria hatte ihr den Zeichenblock aus der Hand gerissen und ihr stattdessen Bauklötzchen gegeben oder Puppen. Victoria hatte sie von jedem Instrument weggezerrt, für das sie sich interessiert hatte. Sie hatte nicht gewollt, dass sie im Chor sang, sie sollte lieber Sport machen. Und wäre sie nicht gestorben, als Fiona dreizehn war, noch jung genug, um ihren Neigungen nachzugehen, wer weiß, womit sie sich heute rumquälen würde, weil ihre Mutter, die gar nicht ihre Mutter war, sie auf einen anderen Weg gezwungen hätte. Aber dreizehn war schon zu alt gewesen, um sich in einer Disziplin als Wunderkind hervorzutun. Fiona malte passabel, aber nicht gut genug, um davon zu leben. Also war sie auf der anderen Seite der Kunst gelandet, im Verkauf, auch wenn sie sich früher – heute nicht mehr, heute fehlte ihr die Energie – an Installationen gewagt und Happenings wie diese Sache mit der North Bridge veranstaltet hatte. Wann hatte sie zuletzt wirklich etwas selbst geschaffen? Sie hatte doch Kunst studiert, sie hatte es doch in sich, jetzt endlich lag der Beweis vor, sie hatte die schöpferische Kraft doch geerbt, oder etwa nicht? Und was tat sie damit?
Nichts.
Deprimiert sah Fiona zum Fenster raus. Vielleicht in ein paar Tagen, wenn sie sich erholt hatte. Vielleicht änderte die Entwöhnung von dem Diazepam alles. Anschließend Therapie, nur noch leichte Medikamente. Keine Angstattacken mehr, keine schlaflosen Nächte, keine lähmende Müdigkeit. Man wurde nicht zu alt für die Kunst. Astrid Roeken fiel ihr ein, wie alt war sie heute? Fünfzig? Wirkte keineswegs alt. Erfand sich alle paar Jahre neu, suchte sich ihre Materialien, suchte sich ihre Themen. Hörte nie auf.
»Wollen wir uns unterhalten?«
Sie hatte nicht gehört, dass Dr. Lloyd angeklopft hatte. Oder hatte er gar nicht geklopft?
»Worüber?«
»Worüber Sie wollen.«
Keine Therapiegespräche, hatte sie gesagt, er war einverstanden gewesen. Aber unterhalten können wir uns doch, hatte er wissen wollen. Ja, ja, von mir aus, unterhalten, wenn es sein muss.
»Kommen Sie mit in mein Zimmer, da sitzt man bequem. Wie geht es Ihnen mit den neuen Tabletten?«
Sie zuckte die Schultern, schaffte ein Lächeln. »Ich bin sehr müde.«
»Das ist normal, wenn Sie das Diazepam absetzen und der Körper sich umstellt. Das gibt sich in ein paar Tagen. Gehen wir?«
Sie nickte, sprang von der Fensterbank, auf der sie gesessen hatte, und folgte ihm.
Zeitungsnotiz, Mai 1984:
Der deutsche Ausnahmepianist Frederik Arnim (35) lebt seit Anfang des Monats mit seiner Verlobten, der Sopranistin Harriet Carrington-Lloyd (26), und seinen beiden Kindern in London. »Der
Weitere Kostenlose Bücher