Das alte Königreich 01 - Sabriel
der Spitze waren. Wo immer sie auch hinkamen, läuteten bereits die Glocken, denn der Glockenturm einer jeden Ortschaft griff die Warnung auf und gab sie an die nächste weiter.
Wie Horyse geschätzt hatte, gelangten sie kurz vor achtzehn Uhr nach Wyverley. Die Lastwagen hielten hintereinander und nahmen dabei die gesamte Länge der Straße ein, vom Haus des Polizisten bis zum Gasthaus. Die Männer stiegen aus, fast noch ehe die Wagen gehalten hatten, und nahmen auf der Straße in Reih und Glied Aufstellung. Der Funkwagen parkte unter einem Telefonmast, zwei Männer kletterten hinauf, um ihre Drähte anzuschließen. Die Militärpolizisten schritten zum Ortsanfang und Ortsende, um möglichen Verkehr umzuleiten. Sabriel und Touchstone stiegen aus dem Wagen und warteten.
»Es ist nicht viel anders als bei der Königlichen Garde«, sagte Touchstone und beobachtete, wie die Männer sich aufstellten, die Sergeanten brüllten und die Offiziere sich um Horyse sammelten, der in das soeben angeschlossene Telefon sprach: »Beeilt euch und wartet!«
»Ich hätte dich gern in der Königlichen Garde gesehen«, sagte Sabriel. »Und das Alte Königreich in… ich meine, bevor die Steine gebrochen wurden.«
»Zu meiner Zeit, meint Ihr«, entgegnete Touchstone. »Das hätte mir gefallen. Es war damals eher so wie hier… wie es hier normalerweise ist, meine ich. Friedlich und bedächtig. Manchmal hielt ich das Leben für zu bedächtig und vorhersehbar. Jetzt hätte ich es gern genau so wieder…«
»Ich dachte in der Schule ähnlich«, erwiderte Sabriel. »Ich träumte vom Alten Königreich. Richtiger Chartermagie. Tote zu binden. Prinzen zu…«
»Retten?«
»Heiraten«, erwiderte Sabriel geistesabwesend. Sie hatte sich auf Horyse konzentriert, der übers Telefon schlechte Neuigkeiten zu erfahren schien.
Touchstone schwieg. Er sah nun alles klarer – und alles kreiste um Sabriel. Ihr schwarzes Haar glänzte wie eine Rabenschwinge in der Nachmittagssonne. Ich liebe sie, dachte er. Aber wenn ich jetzt das Falsche sage, werde ich vielleicht nie…
Horyse gab einem Funker das Telefon zurück und wandte sich Touchstone und Sabriel zu. Touchstone beobachtete den Oberst. Plötzlich wurde ihm klar, dass er wahrscheinlich nur noch fünf Sekunden allein mit Sabriel haben würde, in denen er ihr etwas sagen konnte. Möglicherweise waren es die letzten fünf Sekunden, die sie je allein haben würden…
Ich habe keine Angst, sagte er sich.
»Ich liebe dich«, wisperte er Sabriel zu. »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel.«
Sabriel schaute ihn an und lächelte beinahe wider Willen. Die Trauer um ihren Vater war noch in ihr, ebenso ihre Angst vor der Zukunft – doch Touchstone zu sehen, der sie so verzweifelt anschaute, gab ihr auf irgendeine Weise Hoffnung.
»Ich nehme es dir nicht übel«, flüsterte sie zurück, beugte sich zu ihm vor und runzelte die Stirn. »Ich glaube… ich glaube, ich könnte dich auch lieben, aber jetzt ist nicht…«
»Die Telefonverbindung zum Außenkommando wurde soeben unterbrochen«, rief Horyse grimmig mit erhobener Stimme, um sich über dem Glockengeläut verständlich zu machen. »Vor einer Stunde quoll Nebel über die Mauer. Er hat unsere Gräben um sechzehn Uhr sechsundvierzig erreicht. Danach konnte keine unserer Kompanien, die dort in Stellung sind, mehr erreicht werden – weder über Telefon noch durch einen Kurier. Ich habe gerade mit dem Offizier vom Dienst gesprochen – der junge Bursche, der sich so für Ihr Flugzeug interessiert hat. Er sagte, dass der Nebel sich mit bedrohlicher Geschwindigkeit nähert. Dann war die Verbindung plötzlich abgeschnitten.«
»Kerrigor hat also nicht bis Sonnenuntergang gewartet«, stellte Sabriel fest. »Er beeinflusst das Wetter.«
»Den Zeitangaben zufolge, die ich vom Außenkommando übermittelt bekam, bewegt sich dieser Nebel – und was immer sich darin befindet – ungefähr zwanzig Meilen die Stunde südwärts«, erklärte Horyse. »Da er sich in gerader Richtung vorwärts bewegt, müsste er uns gegen neunzehn Uhr dreißig erreichen. Da ist es bereits dunkel und der Mond noch nicht aufgegangen.«
»Dann müssen wir los«, drängte Sabriel. »Der Saumpfad zur Ampferhöhe beginnt hinter dem Wirtshaus. Soll ich führen?«
»Lieber nicht«, antwortete Horyse. Er drehte sich um und brüllte einige Befehle, die er mit heftigen Gesten untermalte. Innerhalb von Sekunden kamen die Soldaten um die Ecke des Gasthauses und schlugen den Pfad zur
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