Das alte Königreich 01 - Sabriel
wiederholte Sabriel. »Du kannst meine Hand ruhig loslassen.«
Touchstone lächelte und öffnete die Hand. Sabriel blickte ein wenig verwirrt; dann lächelte auch sie, und ihre Finger entspannten sich langsam, bis Touchstones und ihre Hand auf dem Sitz lagen, wobei ihre Finger sich gerade noch berührten.
In jeder anderen Stadt hätte sich bestimmt eine Menschenmenge um einen Militärwagen mit zwei so ungewöhnlich aussehenden Mitfahrern gesammelt. Doch dies war Bain, und Bain lag unweit der Mauer. Wenn die Leute hier Charterzeichen, Säbel und Rüstungen sahen, gingen sie in die entgegengesetzte Richtung. Jene, die von Natur aus vorsichtig waren oder eine Spur des zweiten Gesichts besaßen, begaben sich nach Hause und verschlossen Türen und Fenster mit Stahl und Eisen sowie mit Zweigen der Eberesche und des Besenginsters. Andere, noch vorsichtigere Bürger eilten zum Fluss und zu seinen sandigen Inseln, ohne auch nur vorzutäuschen, dass sie angeln wollten.
Horyse kam fünf Minuten später wieder aus der Inspektion heraus, begleitet von einem großen ernsten Mann, dessen kräftiger Körperbau und raubvogelscharfes Gesicht durch einen zu kleinen Kneifer, der auf der Spitze seiner Nase thronte, ein wenig an Würde verlor. Er verabschiedete sich mit einem Händeschütteln vom Oberst, worauf Horyse zum Wagen zurückkehrte. Sie fuhren weiter. Der Fahrer brachte den Wagen mit knackenden Gängen geschickt wieder in Fahrt.
Ein paar Minuten später, bevor sie das letzte Haus der Stadt erreichten, begann hinter ihnen eine Glocke tief und langsam zu läuten. Nur Augenblicke später fiel irgendwo links davon eine andere ein, dann eine weitere voraus. Bald läuteten überall Glocken.
»Schnelle Arbeit«, rief Horyse über die Schulter. »Der Stadtkommandant hat mit seiner Einsatztruppe wohl schon des Öfteren den Ernstfall geprobt.«
»Sind die Glocken eine Warnung?«, fragte Touchstone. Mit so etwas war er vertraut, und er fühlte sich allmählich etwas wohler, obwohl das Läuten eine Warnung vor größter Gefahr war. Doch Touchstone hatte keine Angst mehr; nachdem er sich den Schrecken der Zisterne zum zweiten Mal gestellt hatte, konnte er mit jeder Furcht fertig werden.
»Ja«, antwortete Horyse. »Sie raten, bei Einbruch der Nacht im Innern zu sein und dort zu bleiben, alle Türen und Fenster zu verschließen, innen und außen Licht zu machen sowie Kerzen und Laternen bereitzuhalten, falls der Strom versagt. Außerdem soll man Silber tragen, und wenn man im Freien und zu weit von zu Hause entfernt ist, sollte man fließendes Wasser suchen.«
»Wir haben das in den unteren Klassen auswendig gelernt und aufsagen müssen«, fiel Sabriel ein. »Aber ich glaube nicht, dass sich sehr viele daran erinnern, auch nicht die Leute, die hier wohnen.«
»Sie würden sich wundern, Ma’am«, warf der Fahrer ein, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »So lange und laut haben die Glocken seit zwanzig Jahren nicht geläutet. Die meisten Bürger der Stadt wissen, was zu tun ist. Jeder wird dem anderen beistehen – machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«
»Ich hoffe es«, erwiderte Sabriel, die sich nur zu gut an die Bürger Nestowes erinnerte, von denen zwei Drittel den Toten zum Opfer gefallen waren, während die Überlebenden sich in Fischräucherschuppen auf einer Felsinsel gerettet hatten, wo sie nicht gerade ein angenehmes Leben führten. »Ja, ich kann es nur hoffen.«
»Wie lange dauert es noch, bis wir die Ampferhöhe erreichen?«, fragte Touchstone. Er erinnerte sich ebenfalls; hauptsächlich kreisten seine Gedanken jedoch um Rogir. Bald würde er Rogirs Gesicht wieder vor sich sehen, aber es würde nur noch eine Hülle sein, ein Werkzeug für das, was Rogir geworden war.
»Höchstens noch eine Stunde, würde ich sagen«, erwiderte Horyse. »Gegen achtzehn Uhr. Wir schaffen mit diesem Wagen im Durchschnitt fast dreißig Meilen pro Stunde – sehr bemerkenswert. Für mich jedenfalls. Ich bin sehr an das Außenkommando gewöhnt und an das Alte Königreich, zumindest den kleinen Teil, den wir von unseren Patrouillengängen her kennen. Ich hätte gern mehr davon gesehen, wäre gern auch weiter nordwärts gezogen…«
»Das werden Sie«, sagte Sabriel, doch ihrer Stimme fehlte die Überzeugung, das hörte sogar sie selbst. Touchstone schwieg, und auch Horyse entgegnete nichts. So fuhren sie schweigend weiter und erreichten bald die Lastwagenkolonne, wo sie ein Fahrzeug nach dem anderen überholten, bis sie wieder an
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