Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das alte Königreich 01 - Sabriel

Titel: Das alte Königreich 01 - Sabriel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
Vom Netzwerk:
kämpfte. Sie wusste, dass das Nordzeichen schwach war; trotzdem verliefen flammende Linien zwischen allen vier Punkten, und die Raute war vollständig, wenngleich ein wenig unstabil. Doch besser brachte Sabriel sie nicht zu Stande. Sie steckte ihr Schwert ein, schlüpfte aus den Handschuhen und langte nach dem Bandelier, um mit eisigen Fingern die Glocken zu zählen.
    »Ranna«, sagte sie laut und berührte die erste und kleinste Glocke. Ranna, die Schlummerschenkerin, brachte mit ihrem süßen, leisen Ton Stille.
    »Mosrael.« Die zweite Glocke besaß einen schrillen Klang. Mosrael war die Weckerin, die Glocke, die Sabriel nie benutzen sollte, denn sie warf jenen, der sie läutete, tiefer in den Tod, als sie den Lauschenden ins Leben half.
    »Kibeth.« Kibeth, die Schreiterin. Eine Glocke mit verschiedenen Tönen, schwierig und widersprüchlich. Sie konnte einem Toten Bewegungsfreiheit geben oder ihn durch das nächste Tor befördern. So mancher Nekromant hatte sich bei Kibeth geirrt und war dort aufgetaucht, wo er unter keinen Umständen auftauchen wollte.
    »Dyrim.« Eine melodische Glocke mit reinem, schönem Klang. Dyrim war die Stimme, welche die Toten so oft verloren. Doch Dyrim konnte auch eine zu vorlaute Zunge zum Schweigen bringen.
    »Belgaer.« Noch eine arglistige Glocke, die von sich aus zu läuten versuchte. Belgaer war die denkende Glocke, jene Glocke, die von den meisten Nekromanten abgelehnt wurde. Sie konnte eigenständige Gedanken zurückbringen, die Erinnerung und alles, was zu einem Lebenden gehörte. Durch eine unachtsame Hand jedoch vermochte sie dies alles zu löschen.
    »Saraneth.« Die tiefste Glocke. Der Klang der Stärke. Saraneth war die Fesslerin, welche den Toten dem Willen desjenigen unterwarf, der Macht über die Glocke besaß.
    Und als Letztes die größte Glocke, die Sabriels kalte Finger selbst durch die Lederhülle, die sie am Schweigen hielt, noch kälter scheinen ließ.
    »Astarael, die Klagende«, wisperte Sabriel. Astarael war die Verbannerin, die Endgültige. Richtig geläutet versetzte diese Glocke jeden, der sie hörte, weit in den Tod. Jeden – auch den, der sie läutete.
    Sabriels Hand berührte ganz leicht Ranna, bewegte sich dann aber zu Saraneth. Behutsam löste sie die Glocke aus ihrer Hülle. Der Klöppel läutete schwach; es klang wie das Brummen eines erwachenden Bären.
    Sabriel brachte sie zum Schweigen, indem sie den Klöppel mit der Hand im Gehäuse hielt. Mit der Rechten zog sie ihr Schwert und hob es vor die Augen. Die Machtsymbole entlang der Klinge fingen den Mondschein und erwachten flackernd zum Leben. Sabriel beobachtete sie kurz, denn manchmal konnte man diesen Symbolen Omen entnehmen. Seltsame Zeichen huschten über die Klinge, ehe sie sich zu der üblichen Inschrift wandelten, die Sabriel gut kannte. Sie neigte den Kopf und bereitete sich darauf vor, den Tod zu betreten.
    Von Sabriel unbemerkt, begann die Inschrift aufs Neue zu fließen, doch Teile davon waren nicht dieselben. Gewöhnlich besagte sie: »Ich wurde für Abhorsen gemacht, um jene zu töten, die schon tot sind.« Nunmehr fuhr sie fort: »Die Clayr sahen mich, der Mauermacher erschuf mich, der König dämpfte meine Stimme, Abhorsen schwingt mich.«
    Sabriel schloss die Augen und spürte die Grenze zwischen Leben und Tod. Der zuvor so kalte Wind war nun seltsam warm und der Mondschein hell und heiß wie Sonnenschein. Auf ihrem Gesicht spürte sie jedoch die Kälte des Grabes, und als sie die Augen öffnete, sah sie das graue Licht des Todes.
    Durch ihre Willenskraft trat ihr Geist hinein. Schwert und Glocke waren bereit. Im Innern der Raute erstarrte ihr Körper; Nebel wirbelte um ihre Füße und wand sich ihre Beine empor.
    Raureif legte sich auf ihr Gesicht und ihre Hände, und die vier Chartersymbole flammten an jeder Spitze der Raute auf. Drei beruhigten sich, nur das im Norden flammte noch heller – und erlosch.
    Der Fluss war wild, doch Sabriel setzte die Füße gegen die Strömung. Sie achtete weder auf den Sog des Wassers noch auf die Kälte. Sie konzentrierte sich darauf, nach einer Falle oder einem Hinterhalt Ausschau zu halten. Es war ruhig an diesem Übergangspunkt zum Tod. Sie konnte zwar das Wasser durch das Zweite Tor tosen hören, aber das war auch schon alles. Kein Platschen, kein Gurgeln, keine seltsamen Laute. Keine dunklen, formlosen Schatten oder bedrohlichen Silhouetten – nichts, das in diesem grauen Licht auch nur verschwommen sichtbar gewesen wäre.
    Sabriel

Weitere Kostenlose Bücher