Das alte Königreich 01 - Sabriel
sich sogar beruhigend fest an, und nach einigem Herumrutschen war auch der Hängemattensitz sehr bequem. Schwert samt Scheide wurde in eine Halterung an ihrer Seite geschoben, und Mogget setzte sich auf die Riemen, die Sabriels Rucksack unmittelbar hinter ihren Schultern auf dem Boden hielten, denn die Halbhängematte war fast ein Liegesitz.
Aus ihrer neuen Augenhöhe sah Sabriel einen kleinen ovalen Spiegel aus versilbertem Glas unmittelbar unterhalb des Cockpitrands. Er glitzerte in der Spätnachmittagssonne, und sie spürte, dass Chartermagie davon ausging. Irgendetwas veranlasste sie, darauf zu hauchen, so dass ihr heißer Atem das Glas verschleierte, bis sich langsam ein Chartersymbol bildete, wie von einem Geisterfinger auf das beschlagene Glas gezeichnet.
Sabriel studierte das Zeichen sorgfältig und nahm seinen Zweck und die Wirkung auf. Es lehrte sie die Symbole, die folgen würden: Symbole, um im Wind aufzusteigen; Symbole, um eilig niederzugehen; Symbole, um die Luftströmung aus jeder Richtung des Kompasses zu rufen. Es gab auch Symbole für den Papiersegler selbst. Als Sabriel sich sämtliche Symbole eingeprägt hatte, entdeckte sie, dass der gesamte Segler mit Chartermagie ausgestattet und mit Zauber behaftet war. Die Abhorsen, die ihn hergestellt hatte, musste lange und liebevoll daran gearbeitet haben, um etwas zu erschaffen, das eher ein magischer Vogel war als ein Flugzeug.
Die Zeit verstrich und das letzte Symbol schwand. Der Spiegel klärte sich und war wieder nur eine versilberte Glasplatte, die in der Sonne glänzte. Sabriel saß ganz still und prägte sich die Chartersymbole gut ein. Sie staunte über die Macht und Fähigkeit jener, die diesen Papiersegler geschaffen und sich diese Instruktionsmethode hatte einfallen lassen. Vielleicht würde sie eines Tages selbst im Stande sein, ein solches Ding zu bauen.
»Die Abhorsen, die ihn geschaffen hat – wer war sie?«, fragte Sabriel. »Ich meine, wie war sie mit mir verwandt?«
»Cousine«, schnurrte Mogget dicht an ihrem Ohr. »Die Cousine deiner Ururgroßmutter. Die Letzte ihrer Linie. Sie hatte keine Kinder.«
Vielleicht war der Papiersegler ihr Kind, dachte Sabriel, strich mit der Hand sanft über die glatte Oberfläche des Rumpfes und spürte die Chartersymbole in dem Material schlummern.
Sie hatte jetzt ein viel besseres Gefühl, was den bevorstehenden Flug betraf.
»Wir sollten uns beeilen«, riet Mogget. »Es wird bald dunkel sein. Hast du dir die Zeichen eingeprägt?«
»Ja«, erwiderte Sabriel fest. Sie wandte sich den Sendlingen zu, die nun hinter den Schwingen standen und dem Papiersegler als Anker dienten, bis es Zeit war, in den Himmel zu steigen. Sabriel fragte sich, wie oft sie das bereits getan hatten und für wie viele Abhorsen.
»Danke«, sagte sie zu ihnen. »Danke für eure Fürsorge und Güte. Lebt wohl.«
Sie lehnte sich wieder in ihrem Hängemattensitz zurück, umklammerte mit beiden Händen den Rand des Cockpits und pfiff die Noten jener Strömung, die sie in die Lüfte erheben sollte. Dabei stellte sie sich die erforderliche Reihe von Chartersymbolen vor, ließ sie in ihre Kehle und auf ihre Lippen träufeln und in die Lüfte schießen.
Ihr Pfiff klang klar und laut. Mit einem Mal erhob sich ein Wind, der stärker wurde, als Sabriel ausatmete. Mit einem neuerlichen Atemzug wechselte sie zu einem fröhlichen Trillern über. Wie ein Vogel, der sich am Flug erfreut, strömten die Chartersymbole von ihren Lippen, gleichsam hinein in den Papiersegler. Von den Klängen schien sogar der blaue und silberne Anstrich zum Leben zu erwachen, als glänzendes Gefieder den Rumpf hinunterzutanzen und auf die Schwingen überzugreifen. Das ganze Flugzeug erzitterte und bebte und konnte den Start offenbar kaum erwarten.
Das fröhliche Trillern endete mit einer langen, klaren Note und einem Chartersymbol, das wie die Sonne leuchtete. Es tanzte zum Bug des Papierseglers und sank ins Laminat. Eine Sekunde später blinzelten die gelben Falkenaugen; sie wurden ungestüm und stolz und blickten zum Himmel.
Die Sendlinge konnten den Papiersegler kaum noch festhalten. Der Aufwind wurde stärker, riss an dem silberblauen Gefieder, stieß es vorwärts. Sabriel spürte die Anspannung des Papierseglers, die zurückgehaltene Kraft in seinen Schwingen, die Begeisterung des letzten Moments, wenn die Freiheit nicht mehr länger vorenthalten werden kann.
»Lasst los!«, rief sie, und die Sendlinge gehorchten. Der Papiersegler sprang in die
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