Das alte Königreich 01 - Sabriel
noch einen anderen Weg?«
»Mit einem Schiff oder Boot von Nestowe«, unterbrach Mogget, der hinter Sabriel erschienen war und die Pfote fest auf die Karte legte. »Falls wir eines finden und einer von euch es bedienen kann.«
15
Die Geheimtreppe befand sich nördlich von einem der mittleren der vier Schiffe. Verborgen sowohl durch Magie als auch durch die Geschicklichkeit der Erbauer, schien diese Treppe bloß eine besonders nasse Stelle im feuchten Kalkstein zu sein, der die Wand des Schluckloches bildete, doch man konnte direkt hindurchschreiten, denn in Wahrheit handelte es sich um eine Tür, hinter der sich Stufen befanden, die nach oben ins Freie führten.
Sie beschlossen, die Treppe am nächsten Morgen hinaufzusteigen. Sabriel konnte es zwar kaum erwarten weiterzuziehen, denn sie wusste, dass die Gefahr für ihren Vater immer größer wurde, doch sie war vernünftig genug, noch einen Tag zu ruhen. Sie hatte versucht, Touchstone weitere Informationen zu entlocken, als sie nach der Geheimtreppe suchten, aber es war offensichtlich, dass er es vorzog zu schweigen, und wenn er einmal ein Wort redete, machten Sabriel seine unterwürfigen Entschuldigungen nur noch wütender. Nachdem sie die Tür entdeckt hatten, gab sie es völlig auf, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, und setzte sich ins Gras an der Quelle, um die Bücher ihres Vaters über Chartermagie zu lesen. Das Buch der Toten nahm sie nicht aus der Ölhaut. Trotzdem spürte sie seine düstere Gegenwart in ihrem Rucksack.
Touchstone hielt sich am gegenüberliegenden Ende des Schiffes nahe dem Bug auf und machte mit seinen beiden Degen eine Reihe von Fechtübungen, außerdem ein wenig Gymnastik. Mogget beobachtete ihn aus dem Unterholz; seine grünen Augen funkelten, als würde er einer Maus auflauern.
Das Mittagessen war ein erneuter Reinfall, sowohl was die Speisen als auch die Unterhaltung betraf. Es gab Dörrfleischstreifen mit Wasserkresse vom Rand der Quelle – und die üblichen einsilbigen Erwiderungen Touchstones. Er sagte sogar wieder »Mylady«, trotz Sabriels Bitten, sie beim Namen zu nennen. Mogget war auch nicht gerade hilfreich, indem er von ihr nur als Abhorsen sprach. Nach dem Essen nahmen alle ihre vorherigen Aktivitäten wieder auf: Sabriel las, Touchstone machte seine Übungen und Mogget beobachtete ihn weiter.
Sabriel versuchte mit Mogget zu reden, doch der schien von Touchstones Zurückhaltung angesteckt zu sein, allerdings nicht von dessen Unterwürfigkeit. Sobald sie gegessen hatten, verließen alle das erloschene Lagerfeuer – Touchstone begab sich nach Westen, Mogget nach Norden und Sabriel nach Osten, um sich einen möglichst bequemen Platz zum Schlafen zu suchen.
Sabriel erwachte in der Nacht und sah, dass das Feuer wieder angezündet war. Touchstone saß davor und starrte in die Flammen, so dass deren flackerndes, rotgoldenes Licht sich in seinen Augen spiegelte. Sein Gesicht wirkte hager und kränklich.
»Alles in Ordnung?«, fragte Sabriel leise und stützte sich auf einen Ellenbogen.
Touchstone zuckte zusammen, schaukelte auf den Fersen und wäre fast auf den Rücken gefallen. Ausnahmsweise klang er nicht wie ein gekränkter Dienstbote.
»Ich… habe mich an Dinge erinnert, die ich nicht mehr wissen wollte – und habe offensichtlich vergessen, was ich nicht vergessen sollte. Entschuldigung.«
Sabriel antwortete nicht. Er hatte das letzte Wort zum Feuer gesprochen, nicht zu ihr.
»Bitte schlaft weiter, Mylady«, fuhr Touchstone fort und verfiel wieder in seine unterwürfige Rolle. »Ich werde Euch am Morgen wecken.«
Sabriel öffnete den Mund, um etwas Bissiges über die Arroganz vorgetäuschter Bescheidenheit zu sagen, unterließ es dann aber und zog sich unter ihre Decke zurück. Ich darf mich auf nichts anderes als auf Vaters Rettung konzentrieren, sagte sie sich. Das ist das einzig Wichtige. Rette Abhorsen. Mach dir keine Gedanken über Touchstones Probleme oder Moggets seltsames Wesen. Rette Abhorsen. Rette Abhorsen… rette…
»Wach auf!«, maunzte Mogget ihr direkt ins Ohr. Sabriel drehte sich um und beachtete ihn nicht, doch er sprang über ihren Kopf hinweg und wiederholte seine Aufforderung in ihr anderes Ohr. »Wach auf!«
»Ich bin wach«, brummte Sabriel. In die Decke gewickelt, setzte sie sich auf und spürte die Kälte des frühen Morgens auf Gesicht und Händen. Es war noch sehr dunkel, sah man vom flackernden Schein des Lagerfeuers und vom schwachen Licht des Morgengrauens hoch oben über
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