Das alte Königreich 01 - Sabriel
seine und dann Sabriels Kerze, die nun kaum mehr als ein Wachsstumpen war, und steckte beide in eine Tasche vorne an seinem Kilt. Sabriel wollte eine Bemerkung über das heiße Wachs machen und welchen Schaden es anrichten könnte, unterließ es aber. Vielleicht verstand Touchstone keinen Spaß.
»Wie lässt sie sich öffnen?« Sabriel deutete auf die Tür. Sie konnte weder Griff, Knauf, Schloss noch Schlüssel sehen. Auch keine Angeln.
Touchstone schwieg und starrte nur darauf; dann lachte er leise und bitter.
»Ich kann mich nicht erinnern! Der lange Aufstieg die Treppe hinauf, all die Worte und Zeichen – und jetzt alles umsonst! Umsonst!«
»Zumindest hast du uns die Treppe heraufgebracht«, erinnerte ihn Sabriel, erschrocken über die Heftigkeit seiner Selbstverachtung. »Ich würde immer noch an der Quelle sitzen und zuschauen, wie sie sprudelt, wenn du nicht gewesen wärst.«
»Ihr hättet auch so den Weg nach oben gefunden – oder Mogget«, murmelte Touchstone. »Ich verdiene es nicht, mehr als ein Stück Holz zu sein…«
»Touchstone«, unterbrach Mogget ihn fauchend. »Halt den Mund! Du sollst dich doch nützlich machen, erinnerst du dich?«
»Ja«, erwiderte Touchstone. Er bemühte sich, ruhiger zu atmen und sich zusammenzunehmen. »Es tut mir Leid, Mogget. Mylady.«
»Bitte, bitte, nur Sabriel«, sagte sie müde. »Ich habe gerade erst die Schule abgeschlossen – ich bin achtzehn! Mich Mylady zu nennen erscheint mir lächerlich.«
»Sabriel«, sprach Touchstone ihr nach. »Ich werde mich bemühen, daran zu denken. ›Mylady‹ ist eine Angewohnheit… es erinnert mich an meine Stellung auf der Welt. Es ist leichter für mich…«
»Es ist mir egal, was leichter für dich ist!«, brauste Sabriel auf. »Hör auf, mich Mylady zu nennen und dich wie ein Schwachsinniger aufzuführen. Sei du selbst. Ich brauche keinen Diener, ich brauche einen einfallsreichen Freund!«
»Also gut, Sabriel«, sagte Touchstone bedächtig. Er war jetzt verärgert, was in Sabriels Augen aber immer noch besser war als seine Unterwürfigkeit.
»Nun denn«, wandte sie sich an den offensichtlich belustigten Mogget. »Hast du vielleicht eine Ahnung, wie man diese Tür öffnet?«
»Mag sein.« Mogget glitt zwischen ihren Beinen hindurch und über die dünne Linie, die eine Markierung zwischen den beiden Flügeln darstellte. »Schiebt! Jeder an einer Seite.«
»Schieben?«
»Warum nicht?« Touchstone zuckte die Schultern. Er stemmte sich gegen den linken Türflügel, die Handflächen auf das eisenbeschlagene Holz gedrückt. Sabriel zögerte, dann folgte sie seinem Beispiel auf der rechten Seite.
»Eins, zwei, drei – schieben!«, kommandierte Mogget.
Sabriel schob bei »drei« und Touchstone bei »schieben«, deshalb brauchten sie mehrere Sekunden, bis sie beide auf die Tür drückten. Dann aber knarrten die Flügel und schwangen langsam auf. Sonnenlicht fiel in einem breiten Strahl bis zum Boden. Staub tanzte in seinem Schein.
»Es fühlt sich seltsam an«, stellte Touchstone fest. Das Holz summte unter seinen Händen wie gezupfte Lautensaiten.
»Ich kann Stimmen hören«, sagte Sabriel. In ihren Ohren klangen halb verständliche Worte, Lachen und ferner Gesang.
»Ich kann die Zeit sehen«, wisperte Mogget so leise, dass die beiden anderen es nicht hörten.
Dann war die Tür offen. Sie schritten hindurch, beschirmten die Augen vor der Sonne und spürten die kühle Brise beißend auf ihrer Haut. Der frische Tannenduft reinigte ihre Nasen vom unterirdischen Staub. Mogget nieste dreimal hintereinander heftig und rannte im Kreis herum. Die Tür schloss sich hinter ihnen so leise und unerklärlich, wie sie sich geöffnet hatte.
Sie standen auf einer kleinen Lichtung mitten in einem Nadelwald oder einer Tannenpflanzung, so regelmäßig wuchsen die Bäume. Die Flügeltür hinter ihnen befand sich an der Seite eines niedrigen Hügels, der mit Gras und verkümmerten Büschen bewachsen war. Tannennadeln lagen dick auf dem Boden, und alle paar Schritte ragten Tannenzapfen daraus hervor wie Totenschädel, die auf einem uralten Schlachtfeld aus dem Boden gepflügt worden waren.
»Der Schutzwald«, murmelte Touchstone. Er holte mehrmals tief Atem, blickte zum Himmel und seufzte. »Es ist Winter, glaube ich, oder der Beginn des Frühjahrs.«
»Winter«, antwortete Sabriel. »Nahe der Mauer hat es ziemlich stark geschneit. Hier scheint es viel milder zu sein.«
»Der größte Teil der Mauer und der Langwand sowie Abhorsens
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