Das alte Königreich 01 - Sabriel
Touchstone bedächtig, während er den Pfeilschutz erneuerte, was fast seine ganze Aufmerksamkeit erforderte, »zu meiner Zeit trug der Oberste in einem Dorf dieser Größe den Titel eines Ältesten.«
»Wir möchten mit eurem Ältesten sprechen!«, rief Sabriel, deutete auf die sich nähernde Wolkenfront und fügte hinzu: »Vor Einbruch der Dunkelheit!«
»Wartet!«, kam die Antwort, und einer der Schützen stolperte von den Felsblöcken hinauf zu den Schuppen. Sabriel erkannte, dass es sich bei den länglichen Holzhütten wahrscheinlich um Bootshäuser handelte.
Der Schütze kehrte nach wenigen Minuten zurück. Ein alter Mann humpelte hinter ihm über die Steine. Als die anderen drei Schützen ihn sahen, senkten sie ihre Bogen und steckten die Pfeile in ihre Köcher zurück. Kaum hatte Touchstone dies bemerkt, gab er den Pfeilschutz auf. Einen Augenblick später war vom Zauber nur noch ein flüchtiger Regenbogen zu sehen.
»Ältester« war bei dem heranhinkenden Mann offensichtlich nicht nur ein Titel. Langes weißes Haar wehte wie Spinnweben um sein dünnes, runzliges Gesicht, und seine Bewegungen waren die eines Greises. Er schien jedoch keine Angst zu haben. Vielleicht besaß er die Abgeklärtheit eines Mannes, der dem Tod schon sehr nahe ist.
»Wer seid ihr?«, fragte er, als er den Rand der Kluft erreichte und über dem wirbelnden Wasser stand wie ein Prophet aus einer der alten Legenden. Sein tieforangefarbener Umhang flatterte in der aufkommenden Brise. »Was wollt ihr?«
Sabriel öffnete den Mund, um zu antworten, aber Touchstone hatte bereits das Wort ergriffen. Laut verkündete er:
»Ich bin Touchstone, Schutz und Schild der Abhorsen, die vor Euch steht. Sind Pfeile Euer Willkommensgruß für Leute wie uns?«
Der Greis schwieg einen Moment, die tief liegenden Augen durchdringend auf Sabriel gerichtet, als könnte er allein durch seinen Blick Falschheit oder Täuschung ergründen. Sabriel wich dem Blick nicht aus, flüsterte Touchstone jedoch aus dem Mundwinkel zu:
»Was erlaubst du dir, für mich zu sprechen? Wäre eine freundliche Annäherung nicht besser? Und seit wann bist du mein Schutz und…«
Sie hielt inne, als der Greis sich räusperte, um zu sprechen, dann aber ins Wasser spuckte. Flüchtig glaubte sie, dass dies seine Entgegnung wäre, doch da weder die Bogenschützen noch Touchstone reagierten, war es offenbar nicht von Bedeutung.
»Es sind schlimme Zeiten«, begann der Älteste. »Wir sahen uns gezwungen, unsere Heimstätten gegen unsere Räucherschuppen zu tauschen, unsere Wärme und Behaglichkeit gegen Seewind und Fischgestank. Viele Bürger von Nestowe sind tot – oder schlimmer. Fremde und Reisende sind selten in dieser Zeit und nicht immer das, was sie scheinen.«
»Ich bin Abhorsen«, erklärte Sabriel widerstrebend, »Feind der Toten.«
»Ich erinnere mich«, sagte der Greis bedächtig. »Abhorsen war hier, als ich ein junger Mann war. Er kam, um die Geister zur Ruhe zu binden, die mit der Karawane des Gewürzhändlers eingeschleppt wurden. Möge die Charter diesen Mann verfluchen. Ich erinnere mich an den Waffenrock, den du trägst, blau wie die tiefe See, und seine Silberschlüssel. Er hatte auch ein Schwert…«
Erwartungsvoll hielt er inne. Sabriel stand ganz still und wartete ihrerseits darauf, dass er weitersprach.
»Er will das Schwert sehen«, erklärte ihr Touchstone leise, als das Schweigen zu lange anhielt.
»Oh«, murmelte Sabriel und errötete.
Es war ganz offensichtlich. Langsam, um die Bogenschützen nicht zu erschrecken, zog sie ihr Schwert und hielt es in die Sonne, damit deutlich zu erkennen war, wie die silbernen Chartersymbole auf der Klinge tanzten.
»Ja«, seufzte der Greis und ließ erleichtert die alten Schultern sinken. »Das ist das zauberbehaftete Schwert! Sie ist Abhorsen.«
Er drehte sich um und stolperte zu den Bogenschützen zurück. Seine dünne Stimme hob sich und ließ den einstigen Fischer erahnen, dessen Rufe weit über das Wasser hatten tragen müssen. »Kommt, ihr vier. Beeilt euch mit der Brücke! Wir haben Besuch! Endlich Hilfe!«
Sabriel blickte Touchstone bei den letzten beiden Worten fragend an. Erstaunlicherweise erwiderte er ihren Blick.
»Es ist Tradition, dass jemand von hohem Rang wie Ihr von einem bediensteten Schwertkämpfer angekündigt wird«, erklärte er leise und lieferte damit eine verspätete Antwort auf ihre zuvor gestellte Frage. »Und für mich gibt es nur eine vertretbare Art und Weise, mit Euch zu
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