Das alte Königreich 02 - Lirael
Clayr nicht so wütend auf sie waren, wie sie befürchtet hatte; aber sie waren auch nicht gerade erfreut. Ein wenig grob nahmen sie Lirael die Mütze, die Brille und den Schal ab, ohne auf das Haar zu achten, das sich darin verfangen hatte. Dann blickten sieben von Wind und Kälte gerötete Gesichter auf sie hinab.
»Arielles Tochter«, stellte Sanar fest, als hätte sie anhand einer Liste eine Pflanze identifiziert. »Lirael. Nicht auf dem Plan der Wache, also noch ohne die Sicht. Stimmt das?«
»J-ja«, stammelte Lirael. Nie zuvor hatte jemand sie so durchdringend angestarrt. Außerdem vermied sie es normalerweise, mit anderen zu sprechen, vor allem mit erwachsenen Clayr. Und so bedeutende Clayr wie diese Gruppe machten sie nervös, selbst wenn sie sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Nun waren da gleich sieben, die Lirael ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmeten. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Sehnlichst wünschte sie sich auf ihr eigenes Zimmer zurück.
»Warum hast du dich da draußen versteckt?«, fragte die alte Clayr, deren Name Mirelle war, wie Lirael sich erinnerte. »Warum bist du nicht bei der Erwachenszeremonie?«
In ihrer Stimme lag keine Wärme, nur kühle Autorität. Erst jetzt erinnerte Lirael sich daran, dass die alte Frau mit dem ledrigen Gesicht die Kommandeurin der Clayr-Jäger war, die im Gebiet des Sternenbergs und des Abendbergs, des Gletschers und des Flusstals patrouillierten und jagten. Die Jäger waren zuständig für alles und jeden, angefangen von Reisenden, die sich verirrt hatten, bis hin zu Banditen und gefährlichen wilden Tieren. Wie jeder wusste, war mit den Clayr-Jägern nicht zu spaßen.
Mirelle stellte ihre Frage erneut, doch Lirael konnte nicht antworten. Ihre Augen wurden feucht, auch wenn sie den Tränenstrom noch zurückzuhalten vermochte. Doch als Mirelle sie packte und schüttelte, flüsterte Lirael, was ihr als Erstes in den Sinn kam:
»Heute ist mein Geburtstag. Ich werde vierzehn.«
Irgendwie schien sie damit das Richtige gesagt zu haben, denn die Anspannung fiel von den Clayr ab, und Mirelle ließ Liraels Schultern los, die sie so fest gepackt hatte, dass ihre Finger sicherlich Blutergüsse hinterließen.
»Du bist also vierzehn geworden«, sagte Sanar viel freundlicher als Mirelle. »Und du machst dir Sorgen, weil die Sicht noch nicht in dir erwacht ist, oder?«
Lirael nickte.
»Zu einigen von uns kommt sie spät«, fuhr Sanar fort, und in ihren Augen lagen Wärme und Verständnis. »Und je später sie kommt, desto stärker erwacht sie manchmal. Zu mir und Ryelle kam die Sicht erst, als wir sechzehn waren. Hat dir das niemand gesagt?«
Lirael blickte auf und sah die Clayr zum ersten Mal mit großen Augen direkt an. Sechzehn! Das konnte nicht sein!
»Nein«, erwiderte sie. Staunen und Erleichterung sprachen aus ihrer Stimme. »Nicht mit sechzehn!«
»Doch«, versicherte Ryelle ihr lächelnd und fuhr fort, wo Sanar aufgehört hatte. »Wir waren sogar schon sechzehneinhalb und hatten Angst, dass die Gabe nie zu uns kommen würde. Aber dann kam sie doch.« Sie hielt kurz inne. »Weshalb bist du hier heraufgekommen? Weil du keine weitere Erwachenszeremonie mehr ertragen konntest, nicht wahr?«
»Ja.« Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Liraels Gesicht. Sechzehn! Das bedeutete, dass noch Hoffnung für sie bestand. Am liebsten hätte sie alle umarmt, sogar Mirelle, und wäre jubelnd die Sternenberg-Treppe hinuntergestürmt. Plötzlich erschien ihr die Absicht, sich selbst zu töten, mehr als dumm und eine Ewigkeit her, seit sie so etwas auch nur in Erwägung gezogen hatte.
»Ein Teil unseres Problems war damals, dass wir zu viel Zeit hatten, über unsere fehlende Sicht nachzudenken«, sagte Sanar, der die Erleichterung in Liraels Miene nicht entgangen war. »Denn wir gehörten ja nicht zur Wache und waren nicht mit der Sicht-Ausbildung beschäftigt. Natürlich waren wir auch nicht versessen darauf, zusätzliche Haushaltspflichten zu übernehmen.«
Das verstand Lirael. Wer wollte schon öfter Toiletten säubern oder Geschirr spülen, als man ohnehin musste?
»Es war nicht üblich, dass man einen Posten zugeteilt bekam, ehe man achtzehn war«, fuhr Ryelle fort. »Aber wir haben darum ersucht, und die Wache war einverstanden, dass wir richtige Arbeit bekamen. Wir durften eine Papiersegler-Ausbildung machen und lernten zu fliegen. Das war zur Zeit vor der Rückkehr des Königs, als alles viel gefährlicher und unsicherer war. Wir machten
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