Das alte Königreich 02 - Lirael
damals häufigere und weitere Patrouillenflüge als jetzt.
Nach nur einem Jahr des Fliegens erwachte die Sicht in uns. Es hätte ein schreckliches Jahr sein können – wie schon die anderen Jahre zuvor, als wir auf die Gabe der Sicht gewartet hatten, aber viel zu beschäftigt waren, uns darüber groß Sorgen zu machen. Meinst du, dass auch dir richtige Arbeit helfen könnte?«
»Ja!«, rief Lirael inbrünstig. Eine solche Arbeitsstelle würde sie von ihrem Kinderkittel befreien; dann nämlich durfte sie die Kleidung einer arbeitenden Clayr tragen. Außerdem käme sie weg von den jüngeren Kindern und Tante Kirrith. Möglicherweise durfte sie sogar Erwachenszeremonien fernbleiben, je nachdem, welche Arbeit sie tat.
»Die Frage ist, welche Arbeit passend für dich wäre«, überlegte Sanar laut. »Ich glaube nicht, dass wir dich je Gesehen haben, das hilft uns also auch nicht. Gibt es einen Posten, der dir besonders zusagt? Im kaufmännischen Bereich? In der Bank? Im Baugewerbe? In der Krankenstation?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Lirael ratlos.
»Was kannst du denn gut?«, fragte Mirelle und musterte Lirael von oben bis unten, offenbar um festzustellen, ob sie eine brauchbare Jägerin abgeben würde. Dann aber rümpfte sie leicht die Nase und verriet damit, dass sie Lirael nicht für geeignet hielt. »Wie sieht es mit deinen Fechtkünsten aus? Und wie verstehst du dich aufs Bogenschießen?«
»In beidem bin ich nicht so gut«, gestand Lirael schuldbewusst. Sie dachte an die vielen versäumten Übungsstunden in letzter Zeit, weil sie sich nicht hatte aufraffen können, daran teilzunehmen; stattdessen hatte sie in ihrem Zimmer düsteren Gedanken nachgehangen. »Am besten bin ich in Chartermagie, glaube ich. Und in Musik.«
»Dann vielleicht die Papiersegler«, meinte Sanar. Plötzlich runzelte sie die Stirn und blickte die anderen an. »Aber vierzehn ist etwas zu jung. Sie können einen schlechten Einfluss haben.«
Lirael blickte auf die Papiersegler und konnte ein leichtes Schaudern nicht unterdrücken. Die Vorstellung zu fliegen gefiel ihr, doch die Papiersegler ängstigten sie ein wenig. Sie fand es gespenstisch, dass sie ein Eigenleben, ja, sogar so etwas wie Persönlichkeit besaßen. Was war, wenn sie die ganze Zeit mit einem Segler reden musste…? Sie sprach nicht gern mit Menschen, und mit einem Segler reden zu müssen wäre noch viel schlimmer.
»Ich glaube«, sagte Lirael, »ich würde gern in der Bibliothek arbeiten.«
»Die Bibliothek«, wiederholte Sanar und blickte besorgt drein. »Das kann für ein vierzehnjähriges Mädchen gefährlich sein. Andererseits kann es auch für eine Frau von vierzig Gefahren bergen.«
»Nur zum Teil«, entgegnete Ryelle. »In den Alten Etagen.«
»Man kann nicht in der Bibliothek arbeiten, ohne sich zu den Alten Etagen begeben zu müssen«, warf Mirelle düster ein. »Hin und wieder jedenfalls. Es gibt Bereiche der Bibliothek, in denen nicht einmal ich mich umsehen möchte.«
Lirael fragte sich, worüber die anderen redeten. Die Große Bibliothek der Clayr war riesig, doch von den »Alten Etagen« hatte sie noch nie gehört.
Dabei kannte sie die ungefähre räumliche Aufteilung recht gut. Die Bibliothek besaß in etwa die Form eines Nautiluspanzers und führte in immer schmäleren Spiralen in die Tiefe. Diese Hauptspirale war eine ungeheuer lange, gewundene Rampe, die von den obersten Bereichen des Berges bis hinunter zur Talsohle und noch mehrere tausend Fuß weiter in die Tiefe führte.
Von dieser Hauptspirale bogen zahllose Korridore, Zimmer, Hallen und seltsame Kammern ab. Viele waren mit den Aufzeichnungen der Clayr über die Prophezeiungen und Visionen vieler Generationen von Seherinnen gefüllt. Aber sie enthielten auch Bücher und Manuskripte aus sämtlichen Teilen des Königreichs. Uralte und neuere Bücher über Magie und Geheimwissen, Schriftrollen, Landkarten, Rezepte und Inventarlisten, Geschichten und wahre Erzählungen – und weiß die Charter was noch alles.
Doch in der Großen Bibliothek gab es nicht nur Bücher und andere geschriebene Werke. Von ihr führten Türen ab, hinter denen sich alte Rüstkammern voller Waffen und Rüstungen befanden, die seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt wurden und trotzdem stets blitzblank und wie neu blieben. Überdies gab es Räume voller ungewöhnlicher Utensilien, von denen keiner wusste, wozu sie zu gebrauchen waren. Es gab Zimmer, in denen Kleiderpuppen standen, die Kostüme in der Mode längst
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