Das alte Königreich 02 - Lirael
einen Stilken zu töten, eine Kreatur Freier Magie. Ich verspreche dir, dass du vor dem Morgengrauen zurück sein wirst. Ich schwöre es bei der Charter, deren Zeichen ich trage.«
Mit zwei Fingern berührte sie das Charterzeichen auf ihrer Stirn und zuckte zusammen, als sein plötzliches Aufblitzen den Ständer beleuchtete. Dann griff sie nach dem Schwertknauf.
Es pfiff nicht, und die Zeichen auf dem Knauf glühten nur. Beinahe hätte Lirael erleichtert geseufzt, ließ es jedoch im letzten Augenblick, bevor der Laut sie verraten konnte.
Das Schwert kam lautlos aus dem Ständer, obwohl Lirael es hoch über den Kopf heben musste, ehe auch seine Spitze frei war. Und sie hätte sich nie träumen lassen, wie schwer die Waffe war, und wie lang. Sie hatte das Gefühl, dass es mindestens doppelt so viel wog wie ihr kleines Übungsrapier und um mindestens ein Drittel länger war. Es war jedenfalls zu lang, als dass sie die Scheide an ihrem Gürtel hätte befestigen können.
Dieses Schwert ist nicht für eine Vierzehnjährige gemacht, sagte sich Lirael, während sie vorsichtig das Schlafzimmer verließ und die Tür behutsam hinter sich schloss.
Von der Fragwürdigen Hündin war nichts zu sehen, obwohl sich hier nichts befand, das groß genug gewesen wäre, sich dahinter zu verstecken. Außer die Hündin hatte sich irgendwie kleiner gemacht und unter einem der Sessel verkrochen.
»Hündin! Ich hab es! Gehen wir!«, zischte Lirael.
Sie erhielt keine Antwort. Lirael wartete vielleicht eine Minute, obwohl es ihr viel länger erschien; dann schlich sie zur äußeren Tür, drückte ein Ohr dagegen und lauschte nach Schritten auf dem Korridor. Mit dem Schwert in die Bibliothek zurückzukehren, erschien ihr als der schwierigste Teil dieses Unternehmens. Wenn sie einer Clayr begegnete, hätte sie keine Erklärung.
Da nichts zu hören war, schlüpfte sie hinaus. Während die Tür sich hinter ihr schloss, sah Lirael, wie sich plötzlich ein Schatten aus dem dunklen Rand an der anderen Seite schälte, und eine Woge der Furcht durchflutete sie. Doch wieder war es die Fragwürdige Hündin.
»Du jagst mir Angst ein«, flüsterte Lirael zornig, während sie ebenfalls in den Schatten verschwand und zur Zweiten Hintertreppe huschte, die sie direkt zur Bibliothek bringen würde. »Warum hast du nicht gewartet?«
»Ich warte nicht gern«, antwortete die Hündin und trottete neben ihr her. »Außerdem wollte ich einen Blick in Mirelles Gemächer werfen.«
»Nein!«, rief Lirael entsetzt und lauter als beabsichtigt. Sie sank auf ein Knie, nahm das Schwert unter den Arm und griff nach dem Unterkiefer der Hündin. »Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht in anderer Leute Zimmer herumschnüffeln darfst! Was ist, wenn jemand dich als Bedrohung ansieht?«
»Ich
bin
eine Bedrohung«, murmelte die Hündin. »Wenn ich es sein will. Außerdem wusste ich, dass sie nicht da war. Ich konnte es riechen.«
»Bitte, bitte, geh nicht mehr irgendwohin, wo jemand dich sehen könnte«, flehte Lirael sie an. »Versprich es mir.«
Die Hündin versuchte den Kopf abzuwenden, doch Lirael hielt sie an der Schnauze fest. Schließlich murmelte die Hündin etwas, das möglicherweise das Wort »versprochen« enthielt. Unter den gegebenen Umständen, fand Lirael, musste das genügen.
Ein paar Minuten später, als sie die Zweite Hintertreppe hinunterschlich, erinnerte Lirael sich an das Versprechen, das sie Binder gegeben hatte: Sie hatte geschworen, ihn vor dem Morgengrauen in Vancelles Schlafzimmer zurückzubringen. Was aber, wenn ihr das nicht gelang?
Lirael und ihre vierbeinige Begleiterin verließen die Treppe und stiegen die Hauptwendeltreppe hinunter. Als sie etwa dreißig Fuß vor der Tür zum Raum mit der Blumenwiese waren, blieb Lirael stehen. Die Hündin, die mehrere Meter hinter ihr herumschnupperte, rannte herbei und blickte sie fragend an.
»Hündin«, sagte Lirael bedächtig. »Ich weiß, dass du mir nicht helfen wirst, gegen den Stilken zu kämpfen. Aber wenn ich ihn nicht binden kann, möchte ich, dass du dir das Schwert holst und es vor dem Morgengrauen in Vancelles Zimmer zurückbringst.«
»Du wirst es selbst zurückbringen, Gebieterin«, entgegnete die Hündin zuversichtlich mit knurrender Stimme. Dann zögerte sie und fügte weicher hinzu: »Aber ich werde tun, worum du mich bittest, falls es sich als notwendig erweist. Du hast mein Wort.«
Lirael dankte ihr mit einem Nicken, denn sie brachte keinen Laut hervor. Sie schritt die letzten
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