Das alte Königreich 02 - Lirael
fünfzehn Minuten vor Mitternacht anzeigte, verließ Lirael ihr Versteck im Speisesaal und kletterte durch einen Luftschacht zum Schmalen Weg, der sie zum Südbereich und zu Oberbibliothekarin Vancelles Zimmerflucht bringen würde.
Lirael trug ihre Bibliotheksuniform für den Fall, dass sie jemandem begegnete, und hielt einen an Vancelle adressierten Umschlag in der Hand. Zwar hatten einige Bibliothekarinnen Nachtdienst, doch selten solche dritten Grades wie Lirael. Falls man sie anhielt, würde sie behaupten, eine dringende Nachricht abgeben zu müssen. Tatsächlich enthielt der Umschlag ihre paar Zeilen für den Notfall, um die Oberbibliothekarin auf den Stilken aufmerksam zu machen.
Doch Lirael begegnete keiner Menschenseele auf dem Schmalen Weg, der nicht umsonst so genannt wurde: Man kam hier nur mit größter Mühe an einem Entgegenkommenden vorbei. Die Clayr niedriger Ränge mussten sogar rückwärts gehen, wenn eine Vorgesetzte sich näherte, manchmal die gesamte Länge von mehr als einer halben Meile.
Der Südbereich war breiter und auch viel riskanter für Lirael, weil viele der hochrangigen Clayr hier ihre Räumlichkeiten hatten. Glücklicherweise waren die Charterzeichen, die diesen Bereich tagsüber erhellten, nachts sehr schwach und sorgten für tiefe Schatten, in die Lirael sich notfalls flüchten konnte.
Die Tür zu den Gemächern ihrer Vorgesetzten war allerdings von einem Ring aus Charterzeichen, der das in den Stein neben dem Türrahmen gehauene Buch-und-Schwert-Wappen umschloss, hell erleuchtet. Mit ängstlicher Miene blickte Lirael auf dieses Licht. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was sie eigentlich hier machte. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, sie hätte ihre Begegnung mit dem Stilken schon vor Monaten gestanden, gleich nachdem sie in diese Schwierigkeiten geraten war. Dann hätte jemand anderes gegen dieses übermächtige Ungeheuer vorgehen können.
Eine Berührung am Bein ließ sie zusammenfahren. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als sie die Fragwürdige Hündin erkannte.
»Ich dachte, du wolltest mir nicht helfen«, flüsterte sie, als der Hund an ihr hochsprang und ihr das Gesicht ablecken wollte. »Runter mit dir!«
»Ich helfe ja gar nicht«, versicherte die Hündin ihr fröhlich. »Ich bin nur gekommen, um zuzusehen.«
»Nett von dir«, erwiderte Lirael ironisch, doch insgeheim freute sie sich. Irgendwie erschien ihr die »Höhle« der Oberbibliothekarin in Gesellschaft der Hündin weniger bedrohlich.
»Wann tut sich denn endlich was?«, erkundigte die Hündin sich eine Minute später, denn Lirael stand immer noch im Schatten und betrachtete die Tür.
»Jetzt!«, flüsterte Lirael und hoffte, dass dieses Wort ihr den Mut gab zu handeln. »Jetzt!«
Sie überquerte den Korridor mit zehn langen Schritten, legte die Hand um den Bronzeknauf und drückte. Keine Clayr brauchte ihre Tür zu verschließen; deshalb rechnete Lirael auch nicht mit Widerstand. Tatsächlich schwang die Tür auf und Lirael trat ein. Die Hündin flitzte an ihr vorbei.
Lirael schloss die Tür leise hinter sich und sah sich um. Der Raum war zum größten Teil als Wohnzimmer eingerichtet, mit Bücherregalen an drei Wänden, mehreren bequemen Sesseln und einer eigenartigen Skulptur, die ein seltsam zusammengestauchtes Pferd darstellte und aus durchsichtigem Stein gehauen war.
Doch es war die vierte Wand, auf die Lirael schließlich wie gebannt starrte. Sie war ein einziges riesiges Fenster, vom Boden bis zur Decke, und bestand aus dem klarsten und saubersten Glas, das sie je gesehen hatte.
Durch dieses Fenster schaute man auf das gesamte Ratterlin-Tal, das sich Richtung Süden erstreckte. Der Fluss wirkte wie ein breiter Silberstreifen, der tief im Mondschein schimmerte. Es schneite leicht; die Schneeflocken wirbelten wie in einem wilden Tanz, doch keine kam dem Fenster nahe genug, um eine Spur darauf zu hinterlassen.
Lirael zuckte zusammen und wich zurück, als etwas Dunkles geradewegs durchs Schneetreiben flog. Dann erkannte sie, dass es nur eine Eule war, die sich im Tal ein Mitternachtshäppchen schnappen wollte.
»Vor dem Morgengrauen gibt es noch viel zu tun«, sagte die Hündin, als Lirael weiterhin aus dem Fenster blickte, wie gebannt von der Silberschleife des Ratterlins, der sich am Horizont verlor, und der ungewohnten mondbeschienenen Landschaft, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Hinter dem Horizont lag das Königreich: die große Stadt Belisaere mit ihren Wundern,
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