Das alte Königreich 02 - Lirael
Der Aufprall renkte Lirael fast die Schulter aus. Sie stolperte rückwärts und schrie laut auf, von plötzlicher Wut und Panik zugleich erfasst. Instinktiv nahm sie die Kampfhaltung ein. Erneut sprühten Funken, und wieder zischte Wasser, als der Stilken abermals angriff. Lirael und Binder konnten seine messerscharfen Klauen gerade noch parieren. Unbewusst wich Lirael zu der Eiche zurück. Sie hatte alles vergessen, was sie je über Bindezauber gelernt hatte, und dachte auch nicht an die Charter. Es zählte nur noch, zu überleben, das Schwert richtig zu halten, um den mörderischen Angriff der Bestie abzuwehren.
Wieder hieben deren Klauen zu, tiefer diesmal, und zielten auf Liraels Beine. Sie parierte und war selbst überrascht, dass sie es mit ihren kaum ausgebildeten Muskeln schaffte, einen blitzschnellen Stoß gegen den Rumpf der Kreatur zu führen. Binders Spitze traf und löste einen Regen von Funken aus, die kleine Löcher in Liraels Wams brannten.
Doch der Stilken schien nicht allzu schwer verletzt zu sein. Mit wilder Wut griff er sofort wieder an. Jeder Hieb seiner Klauen trieb Lirael mehrere Schritte zurück. Sie parierte verzweifelt, spürte die Wucht jedes Aufpralls bis in die Knochen. Zudem ließ das Gewicht des Schwerts allmählich ihre Arme erlahmen. Sie war nie eine große Schwertkämpferin gewesen und hatte dies auch nicht bedauert – bis jetzt.
Lirael wich einen weiteren Schritt zurück. Dabei stieß ihr Fuß gegen ein Hindernis, überwand es – und trat in ein Loch dahinter. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte nach hinten, gerade als einer der messerscharfen Haken des Monsters die Luft vor ihrer Kehle durchschnitt.
Die Zeit schien stillzustehen, während sie fiel. Sie sah ihren Parierschlag ins Leere gehen, als sie mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht zu wahren und die Haken des Stilken sich ihrer Körpermitte näherten.
Lirael prallte hart auf, spürte den Schmerz aber gar nicht. Sie rollte sich zur Seite. Dabei wurde ihr verschwommen bewusst, dass sie in eine Mulde zwischen zwei Wurzeln gestolpert war. Sie spürte Wurzeln eines Baumes, als sie darüber hinwegrollte.
Erde, Blumen, die hohe Decke und ihre Charterlichter, der künstliche Himmel und wieder Erde, wieder Blumen – bei jeder Drehung rechnete Lirael damit, die silbernen Augen des Stilken über sich zu sehen und seine Haken im Fleisch zu spüren. Doch sie sah weder die Augen noch erfolgte der tödliche Hieb. Nach sechs, sieben Umdrehungen blieb sie liegen. Ihre Bauchmuskeln protestierten schmerzhaft, als sie auf die Füße schnellte.
Binder befand sich noch immer in ihrer Faust. Der Stilken versuchte seinen linken Haken freizubekommen, der tief in einer der Pfahlwurzeln der Eiche steckte. Lirael erkannte sofort, dass der Hieb sie verfehlt und stattdessen die Wurzel getroffen hatte.
Der Stilken starrte sie mit greller Wut in den silbernen Augen an und gab schreckliche gurgelnde Laute von sich, die tief aus seiner Kehle drangen. Er verlagerte sein Körpergewicht von seinem festsitzenden linken Arm auf die rechte Seite und krümmte sich. Muskeln spannten sich unter der scheinbar menschlichen Haut, als die Bestie im gefangenen Arm Kraft sammelte. Dann riss und zerrte sie, um sich zu befreien und Lirael zu töten.
Lirael wusste, dass dies ihre einzige Chance war – diese wenigen Sekunden. Charterzeichen leuchteten auf Binders Klinge, als ihre Gedanken sie aus der Charter holten und sammelten. Sie brauchte vier Meisterzeichen, doch um diese einsetzen zu können, musste sie sich zuerst einmal selbst mit Zeichen geringerer Macht schützen.
Binder half ihr, und die Zeichen verschmolzen in ihren Gedanken langsam zu einer Kette – viel zu langsam, während der Stilken mit gurgelnden Lauten zog und zerrte und seinen Haken Zentimeter um Zentimeter aus dem Holz zog. Die Eiche selbst scheint das Wesen gefangen halten zu wollen, dachte Lirael in einem letzten Winkel ihres Verstandes, der nicht vollkommen auf den Charterbann konzentriert war. Sie konnte den Baum knacken und knarren hören, als versuchte er, mit aller Kraft den Schnitt in seiner Wurzel zusammenzupressen und den Haken darin einzuklemmen.
Das letzte Zeichen glitt in Liraels Bewusstsein und vervollständigte die Beschwörung. Die Kraft des Zaubers pulsierte in ihren Adern und wappnete sie gegen die vier Meisterzeichen, die sie nun rufen musste.
Das erste dieser Meisterzeichen nahm in ihren Gedanken Gestalt an, als der Stilken, begleitet von einem knarrenden Laut
Weitere Kostenlose Bücher