Das alte Königreich 02 - Lirael
der Eiche und einem Schauer weißlich grüner Tropfen, seinen Haken aus dem Holz riss. Doch selbst unter der schützenden Macht ihres Zaubers behielt Lirael das Meisterzeichen nur einen Moment in ihren Gedanken, dann sandte sie es in Binders Klinge, wo es sich wie Öl ausbreitete, sich plötzlich entzündete und die Klinge in goldgelbe Flammen hüllte.
Der Stilken, der bereits heranstürmte, versuchte auszuweichen. Doch es war zu spät. Lirael sprang ihm einen Schritt entgegen, und Binder stieß vor – geradewegs durch den Hals des Ungeheuers. Flammen loderten auf und grelle Funken flogen. Das Wesen erstarrte mitten in der Bewegung, zwei Schritte vor Lirael. Die schrecklichen Haken zu beiden Seiten waren nur eine Handbreit von ihrem Körper entfernt.
Lirael beschwor das zweite Meisterzeichen, und auch dieses lief die Klinge entlang. Doch als es den Hals des Stilken erreichte, verschwand es. Einen Augenblick später begann die Haut des Wesens zu platzen und zu schrumpeln, und blendend weißes Licht brach durch, als die Haut sich vom Körper löste und zu Boden fiel. In weniger als einer Minute hatte der Stilken sein halb menschliches Aussehen verloren. Jetzt war er nur noch eine formlose Säule aus grellem weißem Licht, in der ein Schwert steckte.
Das dritte Meisterzeichen verließ Binder und fuhr direkt in die Säule. Sofort begann sie zu schrumpfen, wurde kleiner und kleiner, bis sie nur noch ein Lichtklecks von wenigen Zentimetern Durchmesser war, in dem Binder mit der Klingenspitze steckte.
Lirael holte die Metallflasche aus der Wamstasche, hielt sie auf den Boden und benutzte das Schwert, um den leuchtenden Rest des Stilken hineinzuschieben. Dann erst legte sie die Klinge zur Seite und verschloss die Flasche mit dem Stopfen. Einen Moment später versiegelte sie das Gefäß mit dem vierten Meisterzeichen, das blitzschnell Korken und Flasche umhüllte.
Einen Augenblick lang zuckte und ruckte die Flasche in ihrer Hand, dann war sie still. Lirael schob sie zurück in die Tasche und setzte sich keuchend neben Binder auf den Boden. Es war vollbracht. Sie hatte den Stilken gebannt. Sie ganz allein.
Lirael lehnte sich zurück und zuckte zusammen, so schlimm waren die Schmerzen in ihrem Rücken und den Armen. Sie sah einen Lichtblitz in der Nähe des Baumes. Sofort vergaß sie die Schmerzen und griff nach Binder. Sie hob das Schwert auf und ging nachsehen. Lauerte dort vielleicht noch ein Stilken auf sie? Oder war er ihr im letzten Augenblick entkommen? Sie überprüfte die Flasche, die eindeutig versiegelt war. Konnte es sein, dass sie einen Moment unachtsam gewesen war, als das vierte Zeichen kam?
Das Licht blitzte erneut auf, warm und gelblich, als Lirael näher kam, und sie atmete erleichtert auf. Das musste Chartermagie sein. Es bestand also keine Gefahr mehr. Der Lichtschein drang aus der Vertiefung, in die sie gestolpert war.
Vorsichtig stocherte Lirael mit Binder in dem Loch und kratzte die Erde zur Seite. Sie erkannte, dass der Schein von einem Buch stammte, das in Fell oder haarige Haut gebunden war. Sie benutzte das Schwert als Hebel und ließ das Buch hochschnellen. Sie hatte gesehen, wie die Eiche den Stilken festzuhalten versucht hatte, und legte keinen Wert darauf, mit dem merkwürdigen Baum in Berührung zu kommen.
Sie griff nach dem Buch, als es in Reichweite zwischen den Wurzeln lag. Die Charterzeichen auf dem Umschlag waren ihr vertraut: Es war ein Bann, um das Buch vor Schmutz, Silberfischchen und Motten zu schützen. Lirael schob sich den dicken Band unter den Arm. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie schweißgebadet, schmutzig und völlig erschöpft war, von den Verletzungen gar nicht zu reden. Auch ihr Wams war nicht mehr zu gebrauchen: Der Funkenregen hatte Hunderte von Löchern hineingebrannt, so dass es aussah, als wäre das Kleidungsstück einem Angriff von Feuermotten zum Opfer gefallen.
Als Lirael sich in Richtung des Ausgangs bewegte, sprang die Hündin zwischen den Blumen auf und kam ihr entgegen, Binders Scheide im Maul, die sie auch nicht losließ, als Lirael das Schwert hineinschob.
»Ich hab’s geschafft«, sagte Lirael. »Ich habe den Stilken gebannt.«
»Mmmpf, mmpf, mmpf«, bekundete die Hündin ihre Zustimmung und tänzelte auf den Hinterpfoten. Dann legte sie das Schwert vorsichtig nieder und sagte: »Ja, Herrin. Ich habe nicht daran gezweifelt. Zumindest nicht sehr.«
»So, so.« Lirael sah auf ihre Hände, die zu zittern anfingen. Dann bebte ihr ganzer Körper,
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