Das alte Königreich 02 - Lirael
nicht anzuspannen und dadurch seine Absicht zu verraten.
Lass mich los!
Doch der Nekromant entschied sich, sein Schwert in die Scheide zu schieben und mit der Rechten die zweitgrößte Glocke zu ziehen. Saraneth, die Fesslerin. Mit ihr würde er Sam seinem Willen Untertan machen, obwohl es seltsam war, dass er ihn ins Leben zurückkehren lassen wollte. Nekromanten hielten normalerweise nichts von lebenden Dienern.
Sein Griff um Sams Handgelenk lockerte sich nicht. Der Schmerz und die Hitze waren so schlimm, dass Sam es kaum mehr ertragen konnte. Zum Glück konnte er seine Finger sehen – er hatte schon befürchtet, dass seine Hand am Gelenk weggebrannt wäre.
Der Nekromant öffnete vorsichtig den Beutel, der Saraneth enthielt. Doch ehe er die Glocke am Stiel fassen und herausziehen konnte, warf Sam sich nach hinten und schlang die Beine um die Taille des Nekromanten.
Beide stürzten in die eisigen Fluten. Als der Nekromant ins Wasser schlug, erhob sich eine gewaltige Dampfsäule. Da Sam unter ihm war, drang ihm das Wasser sofort in Mund und Nase und raubte ihm den letzten Atem. Selbst durch die Kälte fühlte er seine Oberschenkel brennen, ließ aber nicht locker. Er spürte, wie der Nekromant sich wand und drehte, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Durch seine halb geschlossenen Lider sah Sam, dass der Nekromant im Wasser eine Gestalt aus Feuer und Finsternis war, monströser und viel weniger menschlich, als es zuvor den Anschein gehabt hatte.
Mit der freien Hand langte Sam verzweifelt nach dem Bandelier des Nekromanten, um an eine der Glocken heranzukommen. Doch die Ebenholzgriffe schmerzten; sie waren ganz anders als das charterverzauberte Mahagoni der Glocken seiner Mutter. Seine Finger konnten sich um keinen der Griffe schließen, und seine Muskeln erschlafften allmählich. Der Nekromant hingegen verfügte über schier unmenschliche Kraft; der Griff um Sams Handgelenk war unnachgiebig. Sam bekam keine Luft mehr. Panische Angst vor dem Ersticken überkam ihn.
Da wurde die Strömung schneller, riss beide in die Höhe und wirbelte sie Schwindel erregend herum, um sie Augenblicke später in die Tiefe zu reißen – hinunter durch den Wasserfall des Ersten Tores, der sie brutal herumdrehte. Dann waren sie auch schon in der Zweiten Zone, und Sam vermochte seinen übermächtigen Gegner nicht mehr festzuhalten. Der Nekromant befreite sich aus der Umklammerung und rammte Sam heftig den Ellbogen in den Leib, so dass auch der letzte Rest Luft aus seinen Lungen gepresst wurde.
Sam versuchte zurückzuschlagen, doch er sog bereits Wasser statt Luft ein und war völlig entkräftet. Er spürte, wie der Nekromant davonglitt, und sah, dass er sich wie eine Schlange durchs Wasser wand.
Eine Sekunde später stieß Sam durch die Wasseroberfläche. Er hustete, schluckte jedoch genauso viel Wasser wie Luft. Gleichzeitig versuchte er, sich in der Strömung aufrecht zu halten und nach seinem Feind Ausschau zu halten. Hoffnung stieg in ihm auf, als er den Nekromanten nirgends sehen konnte. Und er schien sich nahe am Ersten Tor zu befinden. Das aber war in der Zweiten Zone schwer festzustellen, da die Lichtverhältnisse es praktisch unmöglich machten, weiter zu sehen, als man den Arm ausstrecken konnte.
Doch Sam konnte den Schaum des Katarakts erkennen, und als er sich ein Stück nach vorn bewegte, berührte er das tosende Wasser des Ersten Tores. Nun brauchte er sich nur noch in Erinnerung zu rufen, welcher Zauber ihn hindurchließ. Dieser Zauber stand im
Buch der Toten,
mit dessen Studium er im vergangenen Jahr begonnen hatte. Während er daran dachte, sah er die Seiten vor seinen Augen und die Worte des Zaubers Freier Magie aufleuchten, so dass er sie nur noch zu sprechen brauchte.
Er öffnete den Mund – als zwei brennende Hände seine Schultern packten und ihn mit dem Gesicht voran in den Fluss stießen.
Es war Schmerz, der Sam zurück ins Bewusstsein holte – Schmerz in seinen Fußgelenken und ein seltsames Gefühl in seinem Kopf. Er brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass er sich zwar noch im Tod befand, jedoch wieder an der Grenze zum Leben. Der Nekromant hielt ihn mit dem Kopf nach unten an den Fußgelenken; Wasser strömte Sam aus Ohren und Nase.
Wieder sprach der Nekromant. Er sagte Worte der Macht, die sich wie stählerne Bänder um Sam schlossen. Sam spürte, wie sie drückten, wie sie ihn zum Gefangenen machten. Er wusste, dass er versuchen sollte, sich zur Wehr zu setzen, doch er konnte es
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