Das alte Königreich 02 - Lirael
heraufkommen. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass nur noch drei Torstangen übrig waren; außerdem waren zwei der fünf Schläger zerbrochen.
»Zurück!«, befahl er und brachte den Jubel zum Verstummen. »Wir haben noch nicht allen Totenhänden den Garaus gemacht!«
Während sie zurückwichen, traten Nick und der Sergeant dicht an Sam heran. Nick fragte leise: »Was machen wir jetzt, Sam? Diese Dinger rühren sich immer noch. Spätestens in einer halben Stunde kommen sie frei.«
»Bis es so weit ist, werden Truppen aus dem Perimeter hier sein«, murmelte Sam und blickte auf den Sergeanten, der bestätigend nickte. »Aber diese anderen Kreaturen, die uns schon so gefährlich nahe gekommen sind, machen mir Sorgen. Das Einzige, was ich vielleicht tun könnte, wäre…«
»Was?«, fragte Nick, als Sam nicht weiterredete.
»Das sind alles Totenhände, keine Toten mit freiem Willen«, antwortete Sam. »Neu erschaffene Kreaturen. Die Geister in ihnen sind nur das, was der Nekromant in der Eile herbeirufen konnte. Sie sind weder mächtig noch klug. Wenn ich zu dem Nekromanten vordringen könnte, unter dessen Kontrolle sie sind, würden sie sich wahrscheinlich gegenseitig angreifen oder ziellos umherirren. Einige würden sogar in den Tod zurückgerissen.«
»Dann schnappen wir uns diesen Nekromanten!«, sagte Nick. Seine Stimme klang fest, doch er warf einen nervösen Blick den Hang hinunter.
»So einfach ist das nicht«, entgegnete Sam abwesend. Seine Hauptaufmerksamkeit galt den Totenhänden, die er hier überall spüren konnte. Zehn waren unten, nahe der Straße, und sechs befanden sich irgendwo an der anderen Hügelseite. Beide Gruppen formierten sich zu schwankenden Reihen. Offenbar beabsichtigte der Nekromant, sie von zwei Seiten gleichzeitig angreifen zu lassen.
»So einfach ist das nicht«, wiederholte Sam. »Der Nekromant ist irgendwo da unten, zumindest körperlich. Ganz sicher ist er jedoch im Tod, und er hat seinen Körper hier gelassen – durch einen Zauber oder eine Art Leibwächter geschützt. Um an ihn heranzukommen, muss ich selbst in den Tod gehen, aber ich habe weder ein Schwert noch Glocken noch sonst etwas.«
»In den Tod gehen?« Nicks Stimme hob sich um eine halbe Oktave. Er wollte offenbar noch etwas anderes sagen, blickte jedoch auf die gepfählten Totenhände und schwieg.
»Nicht einmal Zeit, eine Schutzraute zu erstellen«, murmelte Sam. Er war noch nie allein im Tod gewesen, nur mit seiner Mutter, der Abhorsen. Nun wünschte er sich sehnlichst, sie wäre hier. Doch sie war nicht da, und ihm fiel nichts ein, was er sonst tun könnte. Zweifellos würde er selbst alleine davonkommen, doch er konnte die anderen nicht im Stich lassen.
»Nick«, sagte er schließlich, »ich werde in den Tod gehen. Solange ich dort bin, kann ich hier nichts sehen oder spüren. Mein Körper wird wie zu Eis erstarrt sein, also werde ich dich brauchen – und Sie, Sergeant –, um mich zu schützen, so gut es geht. Ich versuche zurück zu sein, ehe die Toten hier sind. Falls ich es nicht schaffe, seht zu, dass ihr irgendwas unternehmt, damit sie nicht so schnell vorankommen. Werft Cricketbälle, Steine und was ihr sonst noch findet. Wenn ihr sie nicht aufhalten könnt, dann fasst mich an der Schulter – aber nur im Notfall!«
»Geht in Ordnung«, versicherte Nick. Er war offensichtlich verwirrt und hatte Angst, doch er streckte seinem Freund die Hand entgegen, während die anderen Jungen bloß neugierig zusahen oder in den Regen starrten. Lediglich der Sergeant unternahm etwas. Er reichte Sam seinen Säbel mit dem Knauf voraus.
»Ihr werdet ihn nötiger brauchen als ich, Sir«, sagte er. Dann, als spräche er Sams Gedanken aus, fügte er hinzu: »Ich wollte, Eure Mutter wäre hier. Ich wünsche Euch viel Erfolg, Sir.«
»Danke«, erwiderte Sam, reichte ihm jedoch den Säbel zurück. »Ich fürchte, nur eine Klinge mit Charterzeichen könnte mir helfen. Behalten Sie ihn.«
Der Sergeant nickte und nahm den Säbel wieder an sich. Sam ging in die Abwehrhaltung eines Boxers und schloss die Augen. Er tastete nach der Grenze zwischen Leben und Tod und fand sie mühelos. Einen Moment lang spürte er noch, wie Regen auf seinen Rücken fiel, während seinem Gesicht bereits die schreckliche Kälte der Todeszone entgegenschlug, wo es niemals regnete.
Mit aller Willenskraft stieß Sam sich in die Kälte und ließ seinen Geist in den Tod dringen. Dann war er dort und die Kälte umhüllte ihn vollends. Er riss die Augen
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