Das alte Königreich 02 - Lirael
zu binden wie einige der älteren Clayr. Das Tuch verbarg ihr schwarzes Haar, und an ihrer Uniform erkannte jeder, wer sie war, selbst die Besucher des Unteren Refektoriums.
Eine Woche vor dem Geburtstag war diese Arbeitskleidung sehr verschönt worden, indem Lirael nun statt des gelben Wamses ein rotes tragen durfte – das stolze Zeichen ihrer Beförderung zur Bibliotheksassistentin zweiten Grades. Diese Rangerhöhung war ihr sehr willkommen, brachte aber auch Probleme mit sich, weil die formelle Verkündung an einem Spätnachmittag völlig unerwartet kam. Vancelle, die Oberbibliothekarin, brachte ihr die frohe Kunde persönlich und sprach von einer am nächsten Morgen stattfindenden kleinen Zeremonie, bei der neben anderen neuen magischen Erkenntnissen auch ein zusätzlicher Schlüsselzauber in ihrem Armband geweckt würde, »der für ihre Pflichten als Bibliotheksassistentin zweiten Grades in der Großen Bibliothek der Clayr erforderlich war«.
Damit ihre unerlaubten Nachforschungen nicht bekannt wurden, hatte Lirael fast die ganze Nacht in ihrem Arbeitszimmer gesessen und sich geplagt, die zusätzlichen Schlüsselzauber zu dämpfen, die sie selbst schon in ihrem Armband erweckt hatte. Nach langen, verzweifelten, erfolglosen Stunden hatte Liraels Stöhnen um vier Uhr früh die Hündin geweckt, die bloß auf das Armband hauchte, worauf die zusätzlichen Zauber wieder in ihren Schlummer fielen. Anschließend war Lirael vor Erschöpfung in einen so tiefen Schlaf gefallen, dass sie beinahe die Zeremonie versäumt hätte.
Das rote Wams war ein vorgezogenes Präsent gewesen, gefolgt von weiteren Geschenken am Geburtstag. Imshi und die anderen jungen Bibliothekarinnen, die am engsten mit Lirael zusammenarbeiteten, schenkten ihr eine neue Feder: ein schmaler Silberstab mit eingravierten Eulen, in deren Krallen zwei unterschiedlich breite Stahlfedern fixiert werden konnten. Die wunderschöne Schreibfeder lag in einer mit Samt gefütterten Schachtel aus süß duftendem Sandelholz; dazu gehörte noch ein antikes Tintenfass aus grünem, rauchigem Glas, in dessen Goldrand Runen eingraviert waren, die niemand zu lesen vermochte.
Sowohl Feder wie Tintenfass ließen sich als Hinweis auf Liraels Angewohnheit deuten, so wenig wie möglich zu reden. Stattdessen schrieb sie Zettel und Notizen, wann immer möglich. In den letzten Jahren hatte sie selten mehr als zehn aufeinander folgende Worte gesagt, und manchmal redete sie tagelang mit keinem Menschen.
Die anderen Clayr wussten natürlich nicht, dass Liraels Schweigen durch ihre Gespräche mit der Hündin, mit der sie sich stundenlang unterhielt, mehr als wettgemacht wurde. Manchmal wurde sie von ihren Vorgesetzten gefragt, warum sie so ungern redete – eine Frage, die Lirael nicht beantworten konnte. Sie wusste nur so viel: Wenn sie mit den Clayr redete, wurde sie an alles erinnert, worüber sie nicht sprechen konnte. Die Gespräche der Clayr wandten sich unausweichlich der Sicht zu, dem Mittelpunkt und einzigen Sinn ihres Lebens. Indem sie nicht sprach, schützte Lirael sich vor Schmerz, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst war.
Während ihres Geburtstagstees im Aufenthaltsraum der jüngeren Bibliothekarinnen, wo üblicherweise viel geredet und gelacht wurde, sagte Lirael schlicht: »Danke«, und lächelte mit tränenfeuchten Augen. So lieb und freundlich ihre Kolleginnen auch sein mochten – an erster Stelle waren sie Clayr, erst dann Bibliothekarinnen.
Liraels letztes Geschenk kam von der Fragwürdigen Hündin, die ihr einen dicken Kuss gab. Da Hundeküsse aus energischem Gesichtabschlecken bestehen, war Lirael froh, dass sie diese Prozedur verkürzen konnte, indem sie der Hündin die Kuchenreste von ihrem Geburtstagsfest gab.
»Alles, was ich bekomme, ist der Kuss von einem Hund«, murmelte Lirael nun. Sie war bereits zur Hälfte in die Schneeotterhaut geschlüpft, doch es würde noch zehn Minuten dauern, ehe sie ihrer Hundefreundin folgen konnte.
Lirael wusste es zwar nicht, aber es gab mehrere Personen, die ihr gern einen Geburtstagskuss gegeben hätten. Nicht wenige der jungen Männer unter den Wachen und Kaufleuten, welche die Clayr regelmäßig besuchten, hatten sie in den letzten Jahren mit wachsendem Interesse beobachtet. Doch Lirael ließ keinen Zweifel daran, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Die Männer hatten auch bemerkt, dass sie nicht redete, nicht einmal mit den Clayr, die in der Küche arbeiteten. Also hatten sie Lirael nur stumm
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