Das alte Königreich 02 - Lirael
Abenteuer. Sie wollten durch das ausgezackte Loch in dem hellgrünen Stein klettern, wo die Hauptwendeltreppe der Großen Bibliothek so unvermittelt endete.
Da das Loch zu klein für Lirael war, hatte sie eine Charterhaut für sich gemacht. In den Jahren, seit ihr das Buch
In der Haut eines Löwen
in die Hände gefallen war, hatte sie gelernt, drei verschiedene Charterhäute anzufertigen. Sie hatte jede wegen ihrer natürlichen Vorteile ausgewählt. Der Schneeotter war klein und geschmeidig und erlaubte es Lirael, durch schmale Spalten zu schlüpfen und mühelos über Eis zu gleiten. Der Braunbär war groß und stark, und sein dicker Pelz schützte vor Kälte und Verletzungen. Der Uhu schließlich ließ sie fliegen und im Dunkeln sehen – allerdings war sie bisher noch nie im Freien geflogen, und in einigen der riesigen Bibliotheksräume war es nie richtig dunkel.
Doch die Charterhäute hatten auch ihre Nachteile. Der Schneeotter sah nur in Grautönen und nur, was sich tief am Boden befand. Außerdem übertrug sich die Vorliebe des Tieres für Fisch noch tagelang auf Lirael. Die Augen des Braunbären waren schwach, und wenn sie seine Haut trug, war sie mürrisch und gefräßig – und blieb es noch Tage, nachdem sie aus der Haut geschlüpft war. Der Uhu erwies sich am Tag als nicht sehr nützlich, und nachdem sie aus seiner Haut geschlüpft war, tränten ihre Augen im hellen Licht des Leseraums. Aber insgesamt freute Lirael sich über ihre Charterhäute und die Auswahl, die sie getroffen hatte, und es machte sie stolz, dass es ihr inzwischen gelang, die drei Häute in kürzerer Zeit zu erschaffen, als es
In der Haut eines Löwen
für möglich gehalten wurde.
Leider dauerte es ziemlich lange, bis eine Haut fertig war und Lirael sich in ein Tier verwandeln konnte: Ungefähr fünf Stunden nahm die Herstellung in Anspruch, eine weitere Stunde dauerte es, die Haut so zu falten, dass man sie ein, zwei Tage in einer Tasche oder einem Beutel aufbewahren konnte, und mindestens noch eine halbe Stunde, um die Haut überzustreifen. Manchmal brauchte Lirael noch länger, vor allem für die verhältnismäßig kleine Otterhaut. Sie fühlte sich dabei so, als zwänge sie einen Fuß in eine Socke, die gerade groß genug für eine Zehe war – und während die Socke sich weitete, schrumpfte ihr Fuß. Dieses Ankleiden war sehr schwierig und machte Lirael stets ein wenig schwindelig; außerdem wurde ihr übel, wenn sie spürte, dass sie sich gleichzeitig verwandelte und schrumpfte.
Doch an ihrem Geburtstag
musste
sie sich der Schneeotterhaut bedienen, weil der Spalt im Gestein nicht einmal zwei Fuß breit war. Lirael streifte die Haut über, während die Fragwürdige Hündin an dem Loch scharrte, wobei sie sich so sehr reckte und streckte, dass sie länger und dünner wurde.
Nachdem sie einige Minuten lang heftig gescharrt hatte, verschwand die Hündin in dem Spalt. Lirael seufzte und zwängte sich weiterhin in die Charterhaut. Sie kannte die Ungeduld der Hündin, trotzdem schmerzte es sie, dass sie ihr nicht einmal an ihrem Geburtstag den Vortritt ließ.
Nicht, dass sie es wirklich erwartet hätte. Lirael mochte ihren Geburtstag nicht. Es war die verhassteste Zeit des Jahres, der Tag, an dem sie gezwungen war, sich an all das Schlimme in ihrem bisherigen Leben zu erinnern.
Wie an allen Geburtstagen zuvor war sie ohne die Sicht aufgewacht. Inzwischen war es wie eine alte vernarbte Wunde in ihrem Herzen, und Lirael hatte gelernt, ihren Schmerz nicht zu zeigen, nicht einmal gegenüber der Fragwürdigen Hündin, die ansonsten alle ihre Gedanken und Träume teilte.
Sie dachte auch nicht an Selbstmord, wie an ihrem vierzehnten und – flüchtig – an ihrem siebzehnten Geburtstag. Es war ihr gelungen, sich ein eigenes Leben zu schaffen, das zwar nicht ideal, jedoch in vieler Hinsicht zufrieden stellend war. Sie wohnte immer noch in der Halle der Kinder, obwohl sie eine Kammer in der Bibliothek hatte, doch eigene Räumlichkeiten bekam sie erst mit einundzwanzig. Da sie fast jede Stunde in der Bibliothek verbrachte, außer wenn sie in ihrem Bett schlief, war sie allerdings frei von Kirriths Einmischungen. Lirael nahm auch schon lange nicht mehr an Erwachens- oder sonstigen Zeremonien teil, bei denen sie ihren blauen Kittel tragen musste, das unverkennbare Zeichen, dass sie keine richtige Clayr war.
Stattdessen trug sie stets ihre Bibliotheksuniform, sogar beim Frühstück, und hatte sich angewöhnt, sich ein weißes Tuch um den Kopf
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