Das alte Königreich 02 - Lirael
beobachtet; die Romantischeren unter ihnen träumten von dem Tag, an dem Lirael an ihren Tisch treten und sie einladen würde, mit ihr nach oben zu kommen, wie andere Clayr es manchmal taten – nicht aber Lirael. Sie aß weiterhin allein, und die Träumer träumten weiter.
Lirael dachte nur selten daran, dass sie mit neunzehn noch nie geküsst worden war. Aus dem Pflichtunterricht in der Halle der Kinder und aus Büchern in der Bibliothek wusste sie – zumindest theoretisch – alles über Sex. Doch sie war zu schüchtern, sich einem der Besucher zu nähern, nicht einmal denen, die sie regelmäßig im Unteren Refektorium sah, und männliche Clayr gab es nur sehr wenige.
Sie hörte andere junge Bibliothekarinnen offen über Männer reden, manchmal sogar sehr detailliert. Doch diese kurzen Liebschaften waren den Clayr offenbar nicht so wichtig wie das Sehen und ihre Arbeit im Observatorium. Die Sicht war das Wichtigste und kam als Erstes. Wenn Lirael erst einmal selbst die Sicht hatte, würde auch sie vielleicht daran denken, wie andere Clayr einen Mann ins Obere Refektorium zum Dinner einzuladen, danach mit ihm durch den Düftegarten zu spazieren und ihn dann vielleicht mit in ihr Bett zu nehmen.
Tatsächlich konnte Lirael sich nicht einmal vorstellen, dass irgendein Mann sich für sie interessierte, wenn er sie mit einer echten Clayr verglich. Eine echte Clayr war in Liraels Augen viel interessanter und attraktiver als sie.
Auch nach der Arbeit schlug Lirael einen anderen Weg ein als die anderen jungen Clayr. Wenn sie um vier Uhr nachmittags in der Bibliothek fertig waren, gingen die meisten in die Halle der Kinder oder suchten ihre eigenen Räumlichkeiten auf; andere wiederum begaben sich zu einem der Refektorien oder den Örtlichkeiten, an denen die Clayr sich zum Ausspannen trafen, beispielsweise dem Düftegarten oder den Sonnenstufen.
Lirael schlug stets die entgegengesetzte Richtung ein, ging vom Lesesaal hinunter zu ihrem Arbeitszimmer, um die Fragwürdige Hündin zu wecken. Mit ihrer Beförderung hatte Lirael auch einen größeren Arbeitsraum sowie einige spezielle Annehmlichkeiten bekommen, darunter ein winziges Bad mit Toilette, Waschbecken und heißem und kaltem Wasser.
Sobald sie die Hündin geweckt und alles wieder in Ordnung gebracht hatte, was bei ihrer überschwänglichen Begrüßung durcheinander geworfen worden war, warteten Lirael und die Fragwürdige Hündin meist, bis alle Bibliothekarinnen, die Nachtdienst hatten, sich im Hauptlesesaal einfinden mussten, wo sie mit ihren nächtlichen Aufgaben betraut wurden. Da sie während dieser Zeit vor ungewollten Blicken sicher sein konnten, schlichen Lirael und die Hündin die Hauptwendeltreppe zu den Alten Etagen hinunter, wohin andere Bibliothekarinnen nur selten kamen.
Im Laufe der Jahre hatte Lirael die Alten Etagen und viele ihrer Geheimnisse und Gefahren gut kennen gelernt und mehreren anderen Bibliothekarinnen das Leben gerettet, ohne dass diese davon wussten. Wenigstens drei von ihnen wären gestorben, hätten Lirael und die Hündin nicht einigen der finsteren Kreaturen, die irgendwie in die Bibliothek gelangt waren, den Garaus gemacht.
»Komm schon!« Die Hündin schob den Kopf aus dem Loch. Lirael steckte jetzt ganz in der Otterhaut, doch irgendetwas an ihrem Bauch war merkwürdig. Er sah anders aus als sonst, auch wenn Lirael nicht dahinter kam, woran das lag. Sie drehte sich, um ihre Vorderseite besser betrachten zu können, und rollte über den Boden.
»Ich sehe schon, du bist stolz auf dein neues Wams«, sagte die Hündin naserümpfend.
»Wie meinst du das?«, fragte Lirael. Sie setzte sich auf und neigte den Kopf, um auf ihren pelzigen Bauch blicken zu können. Er war von einer anderen Grauschattierung als sonst, ohne dass sie irgendwelche Änderungen vorgenommen hatte.
»Schneeotter haben für gewöhnlich keinen roten Bauch, Frau Bibliotheksassistentin zweiten Grades«, sagte die Hündin kopfschüttelnd.
»Oh«, murmelte Lirael. Sie hatte nie zuvor die Farbe ihres Pelzes verändert. Dass es ihr gelungen war, bewies ihr, dass sie die Anfertigung von Charterhäuten inzwischen unterbewusst beherrschte. Lirael lächelte und folgte der Hündin. Sie hatten schon immer die Geheimnisse dieses Ganges ergründen wollen, waren bisher aber stets durch irgendetwas davon abgehalten worden. Jetzt würden sie endlich entdecken, was sich unterhalb vom Ende der Hauptwendeltreppe befand.
»Der Tunnel ist eingebrochen«, stellte die
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