Das alte Königreich 03 - Abhorsen
den Donner im Tal. Alle Toten vernahmen sie, selbst jene, die noch immer hirnlos an den Seilen zerrten. Sie alle eilten herbei; eine Flut verrottenden Fleisches wogte von allen Seiten der Grube auf das Zelt zu, aus dem ihr höchster Meister sie rief.
Auch andere vernahmen es, wenngleich sie weiter weg waren, als der Schall die Stimme tragen konnte. Hedge fluchte und tötete ein Pferd, um sich ein Reittier zu schaffen, das immer gehorsam sein würde und nie ermüdete. Viele Meilen im Osten wandte Chlorr sich vom Ufer in der Nähe des Abhorsen-Hauses ab und begann zu laufen, eine große Gestalt aus Feuer und Dunkelheit, die sich schneller bewegte, als jeder Mensch es vermocht hätte.
Lirael ließ das Schwert fallen und zog Ranna so hastig, dass die Glocke kurz klingelte und eine Woge der Müdigkeit über sie hinwegrollte. Die Verletzung an ihrem Handgelenk, die sie sich im Totenreich zugezogen hatte, schmerzte noch immer, doch weder der Schmerz noch Rannas Protest konnten Lirael aufhalten. Die Seiten aus dem
Buch der Toten,
die sie nun benötigte, leuchteten vor ihrem geistigen Auge und zeigten ihr, was sie tun musste. Und so tat sie es. Sie vereinte Rannas sanften Klang und Saraneths tiefen Ton mit dem scharfen, gebieterischen Bellen der Hündin.
Der Klang umhüllte Nick, und die Stimme in seinem Innern wurde gedämpft. Doch ein tobender Wille kämpfte gegen den Zauber an. Lirael konnte ihn spüren, wie er sich gegen die vereinten Kräfte der Glocken und des Gebells zur Wehr setzte. Dann, plötzlich, brach der Widerstand. Nick fiel zu Boden. Der weiße Rauch zog sich rasch in seinen Mund und seine Nase zurück.
»Schnell! Schnell! Hilf ihm auf!«, drängte die Hündin. »Rennt nach Süden zum Treffpunkt. Ich werde sie hier aufhalten!«
»Aber… Ranna und Saraneth… er wird schlafen«, entgegnete Lirael, während sie die Glocken verstaute und Nick aufhalf. Er war viel leichter, als sie erwartet hatte. Offenbar war er nur noch Haut und Knochen.
»Nein, nur der Splitter in ihm schläft«, erklärte die Hündin. Ihre Flügel waren im Körper verschwunden, während sie zu ihrer Kampfgröße wuchs. »Schlag ihn ins Gesicht… und dann rennt!«
Lirael gehorchte, doch es trat ihr in der Seele weh. Der Schlag weckte Nick. Er schrie auf, sah sich mit wirrem Blick um und versuchte sich aus Liraels Griff an seinem Arm zu winden.
»Lauf!«, befahl sie und zog ihn mit sich. Sie bückte sich kurz, um Nehima aufzuheben. »Lauf, oder ich treibe dich hiermit an!«
Nick blickte Lirael fassungslos an, dann das brennende Zelt, die Hündin und die heranstürmende Horde von Arbeitern, die er für krank gehalten hatte. Sein Gesicht verlor alle Farbe. Plötzlich begann er zu laufen und gehorchte Liraels lenkender Hand, die ihn nach Süden führte.
Hinter ihnen stand die Hündin im Licht des Feuers, ein mächtiger Schatten, gut fünf Fuß hoch an den Schultern. Die Charterzeichen in ihrem Halsband leuchteten gespenstisch in ihren eigenen Farben und überstrahlten die Flammen des brennenden Zeltes. Freie Magie pulsierte unter ihrem Halsband, und rote Flammen tropften wie Speichel aus ihrem Maul.
Die vorderste Schar der Totenhände sah sie und geriet ins Stocken. Sie wussten nicht, was die riesige Kreatur war und wie gefährlich sie sein konnte.
Dann bellte die Fragwürdige Hündin. Die Totenhände kreischten und heulten, als eine Macht, die sie kannten und fürchteten, nach ihnen griff, ein Tornado aus Freier Magie, der ihre faulenden Körper erfasste und zurück ins Totenreich schickte.
Aber für jeden, der fiel, stürmte ein weiteres Dutzend heran, dessen knöcherne Finger, bleiche Kiefer und faulige Zähne nur eines suchte: Fleisch, gleich, ob magisch oder nicht.
10
Prinz Sameth und Hedge
Lirael hatte die Hälfte des Weges zum Treffpunkt mit Sam hinter sich, als Nick stürzte und nicht mehr aufstehen konnte. Sein Gesicht war gerötet vom Fieber und von der Anstrengung, und er rang nach Atem. Er lag auf dem Boden und blickte stumm zu ihr empor, als wartete er auf die Hinrichtung.
Und so sah es wohl auch aus, denn Lirael stand mit erhobener blanker Klinge über ihm. Sie schob Nehima in die Hülle und musterte Nick stirnrunzelnd. Er war zu krank und zu erschöpft, um zu begreifen, dass sie ihn nur beruhigen wollte.
»Sieht aus, als müsste ich dich tragen«, stellte sie keuchend und mit leiser Verzweiflung fest. Nicht dass er ihr zu schwer gewesen wäre, aber es war noch wenigstens eine halbe Meile bis zum Fluss. Und sie
Weitere Kostenlose Bücher