Das alte Königreich 03 - Abhorsen
kämpfen und könnte es auch gar nicht, denn das Haus war sowohl durch Zauber wie fließendes Wasser zu gut geschützt. Ihr Befehl lautete, dafür zu sorgen, dass die vier im Haus gefangen saßen. Das Haus sollte belagert werden, während die Dinge anderswo voranschritten – bis es zu spät war für Lirael, Sam und ihre Begleiter, irgendetwas zu unternehmen.
Maskenchlorr zischte, als sie an diese Befehle dachte, und Nebel wallte um das, was ihr Kopf gewesen wäre, wäre sie menschlich. Einst war sie eine lebende Nekromantin gewesen und hatte sich von niemandem etwas befehlen lassen. Dann hatte sie einen Fehler begangen, der zu ihrem Tod führte. Doch ihr Meister hatte nicht gestattet, dass sie sich zum Neunten Tor und hindurch begab; stattdessen hatte er sie aufgehalten und ins Leben zurückgebracht, aber nicht in lebender Gestalt. Deshalb war sie nun eine Tote Kreatur, gefangen durch die Macht der Glocken und gebunden durch ihren heimlichen Namen. Ihr gefielen die Befehle nicht, doch hatte sie keine andere Wahl, als zu gehorchen.
Chlorr senkte die Arme. Nebel stieg wie Federflaum von ihren Fingern auf. Rings um sie befanden sich Totenhände, wie der Meister seine unheimlichen Handlanger nannte, Hunderte und Aberhunderte schwankender, schwärender Leichen. Chlorr hatte den Geist dieser verwesenden, teils nur noch aus Gerippen bestehenden Leiber nicht vom Tod zurückgeholt, hatte jedoch von dem, der dies getan hatte, die Macht über diese Kreaturen erhalten.
Nun hob Chlorr einen dünnen, langen Schattenarm und streckte ihn aus. Begleitet von Seufzen, Stöhnen und Gurgeln sowie dem Krachen und Knarren erstarrter Gelenke und gebrochener Knochen marschierten die Totenhände voran, und der Nebel um sie wirbelte auf.
»Wenigstens zweihundert Totenhände halten sich am Westufer auf, und hundert oder mehr sind am Ostufer«, meldete Sameth, richtete sich hinter dem bronzenen Teleskop auf und schwang es herum. »Ich konnte Chlorr zwar nicht sehen, aber ich vermute, dass sie irgendwo da draußen ist.«
Er schauderte, als er daran dachte, wie er Chlorr, dieses Wesen aus bösartiger Dunkelheit, das letzte Mal gesehen hatte: Sie war dabei gewesen, ihr Flammenschwert auf ihn herabzuschwingen. Das war erst letzte Nacht gewesen, doch ihm schien es sehr viel länger her zu sein.
»Wenngleich ich es für möglich halte, dass irgendein anderer Freier Magier diesen Dunst verursacht haben könnte«, fuhr er nach kurzem Nachdenken fort.
»Nebel«, knurrte die Fragwürdige Hündin, die sich nur mühsam auf dem Hocker des Beobachters halten konnte. Abgesehen davon, dass sie reden konnte, sowie von ihrem hellen Halsband aus Charterzeichen, sah sie wie eine ganz normale schwarz-braune Promenadenmischung aus. Eine von der Art, die zu lächeln schien und lieber mit dem Schwanz wedelte, als zu bellen und zu knurren. »Ich finde, der Qualm ist dicht genug, dass man ihn Nebel nennen kann.«
Die Hündin, ihre Herrin Lirael, Prinz Sameth und Mogget, der geheimnisvolle Kater und Diener der Abhorsen, befanden sich alle im Observatorium des obersten Turmstockwerks an der Nordseite des Abhorsen-Hauses.
Die Wände des Observatoriums waren allesamt durchsichtig. Lirael ertappte sich dabei, unruhig zur Decke zu blicken, die – scheinbar von nichts gestützt – in der Luft hing. Dass die Wände nicht aus Glas oder irgendeinem ihr bekannten Material waren, verstärkte noch ihr Unbehagen.
Doch sie wollte nicht, dass man es ihr anmerkte; deshalb verwandelte sie bei den Worten der Hündin ihr unwillkürliches, unruhiges Zucken in ein beipflichtendes Nicken. Nur ihre Hand verriet sie, die zitternd und Trost suchend auf dem Hals der Hündin und der Chartermagie des Halsbands lag.
Obgleich erst früher Nachmittag war und die Sonne noch direkt auf das Haus, die Insel und den Strom schien, wallte dichter Nebel entlang beider Ufer und schloss sich zu emporwachsenden Mauern zusammen, die bereits mehrere Hundert Fuß hoch waren.
Der Nebel war zweifellos durch Zauberei entstanden. Er war nicht wie normaler Nebel vom Fluss aufgestiegen und hatte sich auch nicht von tief hängenden Wolken herabgesenkt. Nein, dieser Nebel war gleichzeitig aus dem Osten und Westen herbeigewogt, ohne dass der Wind Einfluss auf ihn hatte. Und er wurde mit jeder Minute dichter.
Ein weiteres Anzeichen für die Unnatürlichkeit dieses Nebels war im Süden zu erkennen, wo er abrupt endete, bevor er sich mit dem natürlichen Sprühdunst vermischte, der von dem mächtigen
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