Das alte Königreich 03 - Abhorsen
jetzt der große Feigenbaum wächst.«
»Stimmt«, gab Mogget zu. »Aber du auch nicht.«
Doch Moggets letzte Worte klangen eher wie eine Frage, fand Lirael. Aufmerksam beobachtete sie die Fragwürdige Hündin, doch diese kratzte sich lediglich die Nase mit beiden Vorderpfoten, ehe sie entgegnete:
»Jedenfalls gab es mal einen anderen Weg. Falls er noch existiert, ist er tief unten und könnte auf verschiedene Weise gefährlich sein – so gefährlich, dass viele den Weg über die Steine und durch die Reihen der Toten vorziehen würden.«
»Aber du nicht?«, fragte Lirael. »Du hältst ihn für eine Ausweichmöglichkeit?«
Lirael hatte Angst vor den Toten, doch nicht so sehr, dass sie sich ihnen nicht stellen könnte, wenn es sein müsste. Nur war sie mit ihrer neuen Identität noch nicht völlig vertraut. Vielleicht konnte eine Abhorsen wie Sabriel mit ihrer Erfahrung und Macht gefahrlos über die Trittsteine springen und Chlorr, die Schattenhände sowie alle anderen Toten ohne große Schwierigkeiten in die Flucht schlagen. Doch Lirael war sicher, dass sie bei einem solchen Versuch in die Flucht geschlagen, in den Fluss fallen und vom Wasserfall zerschmettert würde.
»Ich glaube, wir sollten diesen anderen Weg erkunden«, sagte die Hündin. Sie streckte sich aus und hätte Mogget dabei fast wieder mit ihren Pfoten getroffen. Dann erhob sie sich gemächlich und gähnte, wobei sehr große, sehr weiße Zähne sichtbar wurden. Lirael war sicher, dass die Hündin das alles tat, um Mogget zu ärgern.
Der Kater blickte die Hündin schief an.
»Du sagtest, der Weg ist tief unten«, maunzte er. »Bedeutet das, was ich glaube? Dorthin können wir nicht gehen!«
»Sie ist längst fort«, antwortete die Hündin. »Obwohl natürlich etwas von ihr zurückgeblieben sein könnte…«
»Sie?«, riefen Lirael und Sameth gleichzeitig.
»Du kennst doch den Brunnen im Rosengarten?«, fragte die Hündin. Sameth nickte, während Lirael sich zu erinnern versuchte, ob sie einen Brunnen gesehen hatte, als sie über die Insel zum Haus gegangen waren. Sie hatte Wildrosen in einer Gartenecke gesehen, die über Spaliere, eine niedrige Mauer und eine Bank wucherten.
»Es ist möglich, den Brunnen hinunterzusteigen«, fuhr die Hündin fort. »Es ist allerdings ein sehr langer und beengter Abstieg, der uns zu Höhlen führen wird, die so tief liegen, durch die wir den Fuß des Wasserfalls erreichen können. Wir werden also wieder hochklettern müssen, aber ich nehme an, das können wir weiter westlich und kommen auf diese Weise an Chlorr und ihren Helfershelfern vorbei.«
»Der Brunnen ist voll Wasser«, gab Sam zu bedenken. »Wir werden ertrinken!«
»Bist du sicher?«, fragte die Hündin. »Hast du je hineingeschaut?«
»Nein«, gestand Sam. »Er ist zugedeckt, glaube ich…«
»Wer ist die ›Sie‹, die du erwähnt hast?«, fragte Lirael mit Nachdruck. Sie wusste aus Erfahrung, wann die Hündin etwas verbergen wollte.
»Jemand, der einst da unten gelebt hat«, erwiderte die Hündin, »und über große und gefährliche Kräfte verfügte.«
»Was meinst du mit ›Jemand‹?«, bohrte Lirael nach. »Wie könnte jemand tief unter dem Abhorsen-Haus gelebt haben?«
»Ich weigere mich, mich auch nur in die Nähe dieses Brunnens zu begeben!«, warf Mogget ein. »Ich glaube, es war Kalliel, der dort gegraben hat. Welchen Sinn hätte es, dass wir dort unten vermodern und unsere Gebeine den seinen in irgendeinem finsteren Winkel hinzufügen?«
Liraels Blick wanderte kurz zu Sam, dann zurück zu Mogget. Sie bedauerte es sofort, denn es bewies ihre eigenen Zweifel und Ängste. Als Abhorsen-Nachfolgerin musste sie stets Vorbild sein. Sam hatte seine Furcht vor dem Tod und den Toten offen zugegeben und auch seinen Wunsch deutlich gemacht, sich hier, in dem gut geschützten Haus, zu verkriechen. Aber er hatte seine Furcht überwunden – vorerst jedenfalls. Wie sollte Sam seinen Mut bewahren, wenn sie ihm kein Vorbild war?
Lirael war immerhin Sams Tante, auch wenn sie sich nicht wie eine Tante fühlte, doch die Tatsache allein bedeutete Verantwortung, selbst wenn der Neffe nur wenige Jahre jünger war als sie selbst.
»Hündin, antworte mir ohne Umschweife«, befahl Lirael. »Wer oder was ist da unten?«
»Nun, es ist schwierig, das in Worte zu fassen«, entgegnete die Hündin. Sie sprang vom Hocker hinunter und scharrte leicht mit den Vorderpfoten. »Vor allem, weil sie wahrscheinlich gar nicht da unten ist. Und wenn doch, könnte man
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