Das alte Königreich 03 - Abhorsen
aber nicht nach geöltem Stahl.
Die Fragwürdige Hündin erklärte ihr, dass die Plättchen aus einer »Gethre« genannten Keramik bestanden und mit Chartermagie stärker und leichter als jedes Metall gemacht worden waren, ohne dass sie selbst über Magie verfügten. Das Wissen um das Geheimnis ihrer Herstellung war längst verloren gegangen; seit tausend Jahren war keine derartige Rüstung mehr angefertigt worden. Lirael betastete eines der Plättchen und ertappte sich bei dem Gedanken, Sam könnte so etwas herstellen, obwohl sie gar keinen Grund für ihre Vermutung hatte.
Über der Rüstung trug Lirael den Wappenrock mit den goldenen Sternen und silbernen Schlüsseln. Das Glockenbandelier musste sie erst noch darüber schlingen. Sam hatte widerstrebend die Panflöten an sich genommen und Lirael den Dunkelspiegel im Beutel gelassen, denn sie hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie wieder in die Vergangenheit blicken musste.
Ihr Schwert, Nehima, ihr Bogen und ihr Köcher von den Clayr sowie ein leichter Rucksack, den die Sendlinge mit allen möglichen Dingen gefüllt hatten und für deren Überprüfung noch keine Zeit gewesen war, vervollständigten ihre Ausrüstung.
Ehe sie sich daranmachte, Sam und Mogget in den Brunnenschacht zu folgen, betrachtete Lirael sich kurz in dem hohen Silberspiegel, der an der Wand ihres Zimmers hing. Ihr Spiegelbild hatte wenig Ähnlichkeit mit der Bibliotheksassistentin zweiten Grades, die sie bei den Clayr gewesen war. Sie sah eine kriegerische, grimmige junge Frau, deren langes schwarzes Haar ihr nicht ins Gesicht hing und es verbarg, sondern im Nacken mit einem Silberband zusammengehalten wurde. Auch wenn sie nicht mehr ihre Bibliothekskleidung trug, hatte sie ihre Trillerpfeife behalten und in den kleinen Beutel an ihrem Gürtel gesteckt. Selbst wenn sie viele Meilen von jeder Hilfe entfernt war, die mit der Pfeife herbeigerufen werden konnte, hatte sie das Bedürfnis, einen winzigen Teil ihrer Vergangenheit und Identität bei sich zu tragen.
Ich bin eine Abhorsen geworden, dachte Lirael. Zumindest äußerlich.
Das sichtbarste Zeichen sowohl ihrer neuen Identität wie ihrer Macht als Abhorsen-Nachfolgerin war das Glockenbandelier, das Sabriel Sam gegeben hatte, nachdem es rätselhafterweise im vergangenen Winter im Haus aufgetaucht war. Lirael lockerte die Lederbeutel einen nach dem anderen und schob die Finger hinein, um das kühle Silber und das Mahagoni zu spüren und dieses empfindliche Gleichgewicht zwischen den Zeichen Freier Magie und Charter in Metall und Holz zu spüren. Doch sie achtete darauf, die Glocken nicht zum Läuten zu bringen, denn schon die leichte Berührung eines Glockenrandes genügte, etwas vom Klang und vom Wesen einer jeden Glocke zu beschwören.
Die kleinste Glocke war Ranna. Schlummerschenkerin nannten sie einige, denn ihre Stimme ähnelte einem Wiegenlied, das alle, die es hörten, in den Schlaf schickte.
Die zweite Glocke war Mosrael, die Weckerin. Lirael berührte auch sie nur ganz leicht, denn Mosrael hielt Leben und Tod im Gleichgewicht. Richtig geschwungen, würde sie die Toten ins Leben zurückbringen und jenen, der sie schwang, vom Leben in den Tod befördern.
Kibeth war die dritte Glocke, die Schreiterin. Sie schenkte den Toten die Freiheit der Bewegung, konnte nach Wahl des Schwingers aber auch dazu eingesetzt werden, ihn dorthin wandeln zu lassen, wohin er wollte. Die Glocke konnte sich aber auch gegen den Schwinger wenden und ihn zwingen, sich irgendwohin zu begeben, wohin er nicht wollte.
Die vierte Glocke war Dyrim, die Schweigengebietende. Dem
Buch der Toten
zufolge war sie die musikalischste Glocke, aber auch am schwersten zu bedienen. Dyrim konnte Toten, die schon lange schwiegen, die Kraft der Sprache wiedergeben, vermochte Geheimnisse zu offenbaren und erlaubte das Gedankenlesen. Sie verfügte auch über finsterere Kräfte, wie Nekromanten sie vorzogen, denn Dyrim konnte eine redende Zunge für immer zum Verstummen bringen.
Belgaer war der Name der fünften Glocke. Sie war die Erinnerungbringende, die Denkerin. Belgaer konnte die Zerstörung des Geistes, zu der es im Tod häufig kam, rückgängig machen und die Gedanken und Erinnerungen der Toten wiederherstellen. Sie konnte diese Gedanken aber auch löschen, sowohl im Leben wie im Tod. Sie war von Nekromanten gern dazu benutzt worden, den Geist von Feinden zu zersplittern, konnte aber auch den Geist von Nekromanten zerschmettern, denn Belgaer liebte ihre Stimme und sang
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