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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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meines Großvaters ist. Meistens nur einmal im Jahr, denn er liegt draußen in Thiais, und der Weg ist weit. Meistens nur an Allerheiligen. Dann strömen die Menschen die Straße entlang, von der Metro oder der Bushaltestelle kommend, stehen im Blumengeschäft am Haupteingang Schlange, leihen Schäufelchen und Gießkannen und fallen dann wie eine Herde Sonntagsgärtner in den Friedhof ein. Der ist riesig, unübersehbar, mit Autostraßen zwischen den Gräberreihen. Divisionen - ja, so heißen die. Er ist nicht schön, zu wenig Wildwuchs, zu geometrisch, immerhin, wenn man weiß, wo die Menschen liegen, die man sucht, findet man sie. Aber es sind zwanzig Minuten zu Fuß vom Eingang aus, und meine Großmutter ist nicht mehr gut zu Fuß, sie leidet seit ihrer Jugend im Krieg an Polyarthritis, angeblich die schlechte Ernährung während der Besatzung, die letzten zwei Jahre ist sie in so einer Art Golfwägelchen hingefahren worden. Ja, und da verbringen wir jedes Jahr den größten Teil des Allerheiligentages.
Wir haben unsere Vesper dabei, wir fegen das tote Laub vom Grab, bürsten die Platten der Grabumrandung mit der Nagelbürste, die Vertiefungen der goldenen Lettern des Namens auf dem Stein werden mit der Zahnbürste vom Grünspan befreit, wir holen die alten Pflanzen raus, das Heidekraut vom Vorjahr, pflanzen neu, wässern, zupfen Unkraut, rechen die Kieselsteine, ja, und meine Großmutter redet mit ihrem Mann. Gus, sagt sie, er hieß ja Auguste, Gus, sieh mich an, mit mir ist es auch nichts mehr. Diesen Herbst haben deine Kollegen wieder gestreikt, das erzählt sie immer, er war ja ein alter Gewerkschafter, oder eben: Ich muss XY noch eine Karte zur Taufe seines Enkels schicken, erinnerst du mich daran?
    Der Amerikaner lächelte und sagte: Wir unterhalten uns nur über Tod und Friedhöfe. Das sollten wir nicht tun.
    Aber es bietet sich hier doch an, in diesem Zwischenreich, sagte Hélène.
    Der Amerikaner hob fragend die Brauen.
    Nun ja, hier in diesem Korridor findet doch sozusagen der Wechsel der Aggregatzustände statt. Ungeborene kommen herein, schreiende Babys werden hinausgetragen, Moribunde werden gebracht und die Särge dann diskret am Hinterausgang entsorgt. Dazwischen, in den Betten, an den Maschinen, in den Sprechzimmern und Labors, ist alles möglich. Das Krankenhaus ist die Schleuse zwischen Leben und Nichtleben.
    Nur dass alle für das Leben kämpfen. Jeder Tod, jeder… jeder ungelöste Fall ist eine Niederlage.
    Und Niederlagen können wir uns nicht erlauben, sagte Hélène und sah ihn an.

    Er erwiderte den Blick. Nein, Niederlagen können wir uns nicht erlauben.
    Sie schwiegen eine Weile, dann schlug Hélène einen Spaziergang durch den Garten vor, weil sie rauchen wollte. Er wies sie darauf hin, dass das in der Schwangerschaft nicht ratsam sei. Hélène brauste auf. Erstens sei sie noch nicht schwanger, und dann gebe es auch Grenzen dessen, was sie sich antun und was sie sich versagen wolle und was nicht.
    Und das Rauchen nicht, sagte sie. In drei Tagen finde die Punktion statt, und wenn es diesmal etwas werde, dann, aber erst dann könne man darüber nachdenken, mit dem Rauchen aufzuhören.
    Was heißt wenn? Es wird etwas! Sie müssen daran glauben. Sie müssen es wollen!
    Oh, Gott weiß, dass ich es will, sagte Hélène.
    Sie wären bestimmt eine großartige Mutter, sagte der Amerikaner.
    Was haben Sie eigentlich, seit Sie hier sind, von Paris und der Umgebung gesehen?, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
    Er antwortete nicht, und sie gingen schweigend weiter bis zu einer Parkbank im Schatten der Außenmauer, hinter der ein teures Apartmenthaus mit dunkel getönten Glasscheiben vor den Balkonen zu sehen war. Sie setzten sich.
    Nichts, sagte der Amerikaner. Gar nichts.
    Hélène sah ihn ungläubig an. Was meinen Sie mit nichts? Nichts, was Sie interessiert hat?
    Nein, gar nichts, sagte der Amerikaner und schlug die Augen nieder. Ich - ich kann nicht. Ich kann nicht
durch die Gegend gehen. Ich - ich traue mich alleine nicht aus dem Haus. Außer dem Kasernengelände in Fontainebleau und dem Krankenhausareal habe ich nichts gesehen. Nicht allein. Wenn ich im Tross oder in Begleitung war, rechts und links jemand hatte, beschirmt war, dann … Aber sonst … Ich gerate in Panik. Ich werde im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig. Ich habe das Gefühl, ich falle, ich stürze ab. Oder mir wird schwindlig. Die Mauern kommen von allen Seiten auf mich zu, schließen mich ein …
    Er fuhr sich verlegen

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