Das Amerikanische Hospital
Strecke zwischen Saint-Méen-le-Grand, einem grauen Dorf, das sich auf seinem Ortsschild rühmte, der Geburtsort des großen Radrennfahrers Louison Bobet zu sein, und Josselin am Rande des Waldes von Paimpont, etwas außerhalb des Weilers von Tréhorenteuc, dort wo das »Tal ohne Wiederkehr« beginnt, in dem der Artus-Sage nach die Fee Morgane untreue Ritter gefangen hielt.
Die Nächte im frühen August dort auf dem Land weit fort von den Städten und ihrer Lichtpollution sind sternenübersät, und in diesem Jahr gab es einen Sternenhimmel, wie Hélène ihn nie zuvor gesehen hatte. Sie lag nach Einbruch der Nacht auf der gemähten Wiese hinter dem Haus, die einem Bauern verpachtet war, und blickte hinauf an den Himmel, wie sie es zum letzten Mal fast fünfzehn Jahre zuvor getan hatte, in jenem langen Sommer, als sie auf dem Plateau von Revest-du-Bion westlich von Forcalquier und Banon fünfhundert Schafe gehütet hatte und manche Nacht draußen unter ihnen verbrachte.
Wie in Gionos Sternenschlange, das sie damals, idealistisch, rebellisch, naiv an andere Lebensformen und eine sich erneuernde Gesellschaft glaubend, verschlungen hatte, oder wie in seiner Großen Herde und in Aragons Augustnacht war die gleißende, funkelnde Dunkelheit kein Tuch, sondern ein saugender, pulsierender, dreidimensionaler Raum, greifbar, atmend, duftend. Schichten
um Schichten, Ordnungen um Ordnungen von Sternen, Hallen und Säulengänge voller glitzernder Intarsien, ein immenser Dom, der zwar erschütternd groß war, aber nichts Kaltes, Abweisendes, Leeres und Steinernes hatte, sondern auf paradoxe Weise schmiegsam und weich sich über sie zu breiten, um sie zu hüllen schien wie ein Schutzmantel, bergend, tröstend und zugleich verheißungsvoll.
Es war ein simples Himmel-und-Hölle-Spiel, ein Sprung von Stern zu Stern dort hinauf oder hinein oder hinab. Alle paar Minuten lud eine Sternschnuppe zu einem feurigen Ritt durch die Schwärze. Die Konstellationen zogen ihren gravitätischen Reigen, das Vlies der Sterne roch scharf und lebendig.
Wie jedes Jahr in der Bretagne begann der Herbst unsichtbar und ohne Wetterumschwung an Mariä Himmelfahrt. Er war nur daran zu spüren, dass Hélène sich, wenn sie in der Dämmerung den Tisch vor dem Haus deckte, einen Pullover oder eine Wolljacke überziehen musste und sich nach Einbruch der Nacht nicht mehr auf die Wiese legen konnte, die mit einem Mal feucht war. Ihre Tante machte abends Feuer in dem riesigen offenen Kamin.
Ihr Mann trat seinen Urlaub an, und sie fuhren an die Küste, und Hélène erklärte ihm auf ihren Spaziergängen am Strand entlang oder auf der Promenade oder dem Chemin des Douaniers, dem Hochweg über der Steilküste, dass es so nicht endlos weitergehen könne, dass sie sich ein Limit setzen müssten, dass die Anzahl der Versuche, die ihnen noch blieb, endlich war, dass sie irgendwann beginnen müssten, auch alternative Entwürfe
und Pläne für ihr weiteres Leben zu bedenken und zu besprechen.
Von dem Amerikaner hörte sie das ganze Jahr über nichts. Aber im Februar 1995 bekam sie einen Anruf aus dem amerikanischen Hospital.
Sie verstand zunächst überhaupt nichts. Ein Dr. Woods, hörbar ein Amerikaner, meldete sich wegen David Cote, den sie doch kenne. Ihr erster Gedanke war, er müsse gestorben sein. Aber diese Frage wurde sogleich verneint, es gehe ihm gut, so weit gut, den Umständen entsprechend gut. Wo er denn überhaupt sei, in Frankreich?, wollte Hélène dann wissen. Ja, hier im AHP. Und warum er dann nicht selbst anrufe, oder sei er dazu nicht in der Lage? Hélène war sehr verunsichert, und jener Dr. Woods machte die Dinge nicht einfacher, indem seinen Versuchen, ihr die Situation zu erklären, andauernd seine ärztliche Schweigepflicht in die Quere kam, die ihn über manches gar nicht, über anderes nur verklausuliert oder bruchstückhaft reden lassen konnte.
Madame, ich bin hier Arzt in der Neurologie, und Major Cote ist unser Patient.
Seit wann? Seit wann wieder?, verbesserte sie sich.
Seit einigen Wochen. Ich rufe Sie auf seine Bitte hin an, aber zugegebenermaßen nicht nur.
Ja, aber warum ruft er nicht selbst an? Kann er nicht? Darf er nicht?
Er hat mich darum gebeten, er wird es Ihnen gewiss selbst erzählen, wenn Sie ihn sehen mögen.
Ja, warum sollte ich ihn denn nicht sehen wollen?
Madame, entschuldigen Sie bitte, sagte Dr. Woods. Er hatte eine tiefe, sympathische und vertrauenerweckende
Stimme, sodass Hélène trotz der merkwürdigen
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