Das Amulett der Pilgerin - Roman
gelüftet!«
»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte der Wirt im Brustton der Überzeugung, dem Viviana aber nicht ganz glauben mochte. Melchor ging mit dem Knecht mit, um die Pferde unterzubringen und das Gepäck zu holen, während Viviana dem Wirt in den bereits gut gefüllten Schlafsaal folgte. Der langgestreckte Holzbau hatte auf beiden Seiten Fenster, die einen angenehm kühlen Luftzug ermöglichten. Obwohl es Sommer war und sich hier viele Menschen auf engstem Raum befanden, war es nicht stickig. Viviana war angenehm überrascht. Die meisten Gäste schliefen bereits, nur einige unterhielten sich leise im Dunkeln. Die Nacht war im Sommer kurz, und mit dem Morgengrauen würden die Ersten aufbrechen. Ein wenig in den Tag hineinschlafen, das konnte man bei so vielen Menschen sowieso nicht.
»Hier, Madame. Sie müssen Ihrem Mann ein Zeichen geben, denn ich kann die Kerze nicht hierlassen.«
»Das mache ich.«
Sie setzte sich auf das Bett. Die Strohmatratze lag auf einem nicht sehr sorgfältig gezimmerten Holzrahmen. Allerdings wurde das Bett dadurch auch von unten belüftet, und man hatte die Möglichkeit, sein Gepäck darunterzuschieben. Viviana dachte an den morgigen Tag. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Sie musste von Sinnen sein, solch ein Risiko einzugehen. Viviana streckte sich auf dem Lager aus. Ihr Blick fiel auf die Leute im Nachbarbett. Sie schliefen. Es war ein junges Paar, eng umschlungen lagen sie auf ihrer Matratze. Die Frau hatte ihren Kopf auf die Schulter des Mannes gelegt, und er hatte den Arm um sie geschlungen. Liebkosend lag ihr Arm auf seiner Brust, ihre Hand schmiegte sich an seinen Hals. Sie lächelte im Schlaf. Viviana blickte auf das Paar und schluckte hart. Die beiden dort waren mit sich und der Welt im Frieden, sie teilten das Bett mit dem Menschen, den sie liebten. Viviana dachte an all die Nächte, die sie das Lager von Männern geteilt hatte, die sie nicht einmal geachtet hatte. Sie fühlte sich plötzlich unendlich alt. Sie war gefühllos und kalt wie ein Stein. Auch heute Nacht würde sie mit einem Mann das Bett teilen, für den sie nichts als Ablehnung empfand. Sie würde nicht in seinem Arm liegen und lächeln, sie würde mechanisch tun, was sie tun musste, um an ihr Ziel zu gelangen. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Viviana schloss die Augen und dachte an Julian. Er war mehr darauf bedacht gewesen, ihr Liebe zu schenken, als sich zu nehmen, wonach ihn gelüstete. Er war ein selbstloser Liebhaber. Sie hatte erlebt, was eine gemeinsame Nacht wirklich sein konnte, und das machte es jetzt umso schwerer, sich mit einem Mann wie Melchor Thorn einzulassen. Sie hörte ein Geräusch vom Eingang des Saals. Thorn stand in der Tür und blickte suchend über die Schlafenden. Einen Moment war Viviana versucht, die Augen zu schließen und einfach in der Menge unterzugehen. Sie hob den Arm und winkte. Melchor bahnte sich seinen Weg zwischen den Betten hindurch und über die Bündel.
»Alles erledigt?«, flüsterte Viviana.
»Elendiges Drecksloch, hier!«
»Es ist doch nur für eine Nacht.«
Melchor verstaute das Gepäck unter dem Bett und legte sich dann zu ihr auf die Matratze.
»Viviana, du machst mich verrückt.« Er zog sie an sich, und sie ließ sich von ihm küssen. Widerwille stieg in ihr auf, den sie kaum unterdrücken konnte.
»Was ist los?«, hauchte Melchor in ihr Ohr, und sie bekam eine Gänsehaut.
»Es sind mir zu viele Leute hier.«
»Die schlafen alle.« Seine Hand glitt unter ihr Kleid.
»Aber wir sind doch keine Bauern!«
Das hatte gesessen. Er zog seine Hand zurück. Viviana, die keine Unstimmigkeit zwischen ihnen aufkommen lassen wollte, schmiegte sich an ihn.
»Es ist doch nicht die letzte Gelegenheit«, schnurrte sie begütigend und kraulte die Haare in seinem Nacken. Melchor rollte sich auf den Rücken, und sie lehnte sich an ihn.
»Sei nicht gram, denk an etwas Angenehmes, an die Zukunft, zum Beispiel«, flüsterte Viviana leise.
Sie merkte, wie er sich entspannte, und fuhr fort: »Ich bin sicher, dass sich so einige Leute wundern werden, wenn du plötzlich dein eigener Herr mit Titel und Besitz bist.«
Melchor brummte seine Zustimmung zu dieser angenehmen Aussicht und hatte im Geiste auch schon eine Liste von Menschen, die er seine neue Stellung in der Gesellschaft spüren lassen würde. Nicht zuletzt Edris, die inzwischen die Frau eines unwichtigen Lords geworden war. Sie würde es noch
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