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Das Amulett der Pilgerin - Roman

Titel: Das Amulett der Pilgerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Bastian
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gesamte Dorf ihn hinter seinem Rücken »Vogelscheuche« nannte. Er erhielt eine Tracht Prügel von seinem Vater, der der Verwalter des Gutes war. Wegen seines ungebührlichen Verhaltens Edris gegenüber, die die Tochter des Gutsbesitzers war, wurde er zu seinem Onkel nach Kent geschickt. Obwohl diese schmerzhafte Erfahrung seiner abgewiesenen Liebe sein Selbstwertgefühl schwer erschüttert hatte, hatte die Ausquartierung nach Kent doch sein Gutes gehabt: Er hatte von seinem Onkel eine Ausbildung erhalten, die ihm den Eintritt in den königlichen Dienst ermöglichte. Hier hatte er gelernt, wie angenehm es sein konnte, Macht über andere Menschen auszuüben. Es war ein neues Gefühl, dass Männer ihn fürchteten, und er kostete es aus. Sein Talent, Menschen einzuschüchtern, und seine Fertigkeiten bei der Folter hatten schließlich dazu geführt, dass der Kardinal ihn in den Dienst genommen hatte. Dort traf er auf Julian White, und sie konnten sich von Anfang an nicht ausstehen. White war all das, was er selbst nicht war: ein gradliniger Ehrenmann, der seine zahlreichen Erfolge seinem Scharfsinn und seiner Menschenkenntnis verdankte. Melchor hingegen kannte weder Hemmungen noch Moral bei seiner Vorgehensweise, was ihm den Ruf von Charakterlosigkeit eingebracht hatte. White sah, besonders im Vergleich mit Melchor, gut aus und konnte ausgezeichnet mit seinen Waffen umgehen. Er war beliebt und respektiert und hatte zu allem Überfluss auch noch eine schöne Frau. Melchor hasste Julian White. Immerhin, die Frau hatte er inzwischen nicht mehr. Melchor blickte auf Viviana, die neben ihm ritt, und ein Lächeln zog sich über sein Gesicht. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet. White würde wegen Hochverrats hängen, er selbst würde erfolgreich sein, und zumindest in diesem Augenblick hatte er die schöne Frau.
    »Die gleiche Antwort hat mir Mister Julian gegeben.«
    »White?«
    Viviana nickte.
    »Der war einmal verheiratet, aber dann ist ihm seine Frau abhandengekommen.«
    »Wie das?«
    »Er hat es nicht herausfinden können.«
    »Dann kann er ja wohl nicht so ein guter Agent sein.«Viviana kicherte. Melchor nickte belustigt, sagte aber: »Täuschen Sie sich nicht, er ist ein gefährlicher Mann.«
    »Er hat Dünkel.«
    »Allerdings.« Melchor meinte, in Viviana eine verwandte Seele zu erkennen.
    Sie musste ihn in Sicherheit wiegen und, so weit es möglich war, sein Vertrauen erlangen. Ihre Geschichte, dass sie den Schlüsselcode verloren hatte und es einen zweiten in London gäbe, war gelogen. Viviana kannte jemanden in der Stadt, der sie verstecken und sie für eine Heimreise ausrüsten würde. Saint Albans lag nur etwa einen Tagesritt nördlich von London. Es war nicht sehr weit, und bis dahin musste sie sich entschieden haben, was sie tun wollte. Immerhin hatte sie es augenblicklich nur mit einem Feind zu tun. Viviana dachte an Julian und spürte, wie ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Er war ihr zu nahegekommen, und eigentlich sollte sie froh sein, dass sich ihre Wege getrennt hatten. Aber Viviana wusste, dass diese Angelegenheit für sie noch nicht erledigt war. Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Armer Julian, er hatte immer gehofft, doch noch die Viviana aus dem Meer in ihr wiederzufinden. Zuerst hatte sie ihn für seine, wie sie zunächst fand, selbstgerechte Art gehasst, aber inzwischen hatte sie ihn besser kennengelernt. Julian White war ein Idealist und trotz aller gegenteiligen Erfahrungen auch ein Menschenfreund. Viviana kannte kaum Männer wie ihn. Es gab sicherlich noch mehr von ihnen, aber in ihrem Betätigungsfeld begegnete sie weitaus häufiger den skrupellosen Verbrechern. Es rührte Viviana, dass Julian an das Gute in ihr glaubte. Sie selbst war überzeugt davon, dass sie keinen verborgenen guten Kern hatte. Sie war nicht das, was er in ihr sah. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen konnte sie sich jetzt nicht einfach aus dem Staub machen. Es war unsinnig und gefährlich, aber sie würde versuchen, Thorn zu überführen und Julian zu entlasten. Wie, das wusste sie allerdings nicht, denn er war ein Agent von König Henry und sie seine Feindin. Sie könnte Melchor einfach ermorden und die Liste wieder an sich nehmen. Damit wäre Julian allerdings nicht gedient, denn es würde nicht beweisen, dass er unschuldig ist. Melchor musste auf frischer Tat ertappt und überführt werden, und das alles musste geschehen, ohne dass sie sich selbst ans Messer lieferte.
    »Wie sieht der

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