Das Amulett der Pilgerin - Roman
mit mir, dachte Julian und warf einen Blick über die Schulter zu Rinaldo, der hinter ihnen ritt. Aber er schien ihrer Unterhaltung keine Beachtung zu schenken, sondern brütete vor sich hin. Julian wandte sich wieder Viviana zu.
»Beeindruckt es dich auch?«
»Wie denn, ich kenne ja schon die Fluchtgeschichte.« Sie lachte fröhlich.
Am späten Vormittag wurde es unerträglich heiß, und sie beschlossen, eine Pause zu machen, ehe die Straße in den Wald führte und gute Rastplätze schwerer zu finden waren. Ein Stück abseits der Straße gab es einen kleinen Hain aus Birken, der Schatten spendete. Rinaldo stieg von seinem Maultier und sah sehr erschöpft aus.
»Der Bach, der die Straße vorhin begleitet hat, muss hier irgendwo sein. Ich werde nachsehen, damit wir die Pferde tränken können.« Julian bahnte sich seinen Weg durch das hohe Gras. Viviana setzte sich neben Rinaldo, der mit geschlossenen Augen an einem der Birkenstämme lehnte. Sie stupste ihn an und reichte ihm den Wasserschlauch.
»Du verstehst dich wirklich gut mit ihm, was?«
»Ja, er ist nett und unterhaltsam.« Viviana hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. »Gott sei Dank sind wir heute nicht zu Fuß unterwegs.«
Rinaldo nickte widerstrebend.
»Und hast du herausgefunden, ob er eine Frau und fünf Kinder hat?«
»Warum sollte ich das?«
Rinaldo richtete sich auf.
»Viviana, ich habe kein Recht, dir vorzuschreiben, was du tun und lassen solltest. Aber ich möchte zu bedenken geben, dass, wenn du dich ihm gegenüber so ungezwungen verhältst, er einen falschen Eindruck von dir bekommen könnte.«
»Aber ich unterhalte mich doch nur«, sagte sie wider besseres Wissen.
»Männer sind nun mal Männer. Außerdem wird er sich wundern, dass ich, als dein Bruder, dich gewähren lasse.«
Viviana seufzte.
»Das stimmt. Wollen wir ihm nicht einfach erzählen, was mit mir passiert ist? Es ist ja nicht so, dass ich etwas verbrochen hätte.«
»Das könnte ihn nur noch mehr in dem Glauben bestärken, dass du Freiwild und damit leicht zu haben bist.«
»Ich glaube nicht, dass er so etwas denkt!«, sagte Viviana mit Nachdruck.
»Täusch dich nicht, Viviana.«
Das kalte, klare Wasser tat gut. Julian nahm erneut einen Schluck und wusch sich dann Gesicht und Hände. Einen Moment hockte er am Ufer und starrte in das plätschernde Wasser. Er wusste einfach nicht, was er von Viviana halten sollte. Sie war offen und zugleich zurückhaltend. Ihr Englisch war ausgezeichnet, und ihre Wortwahl ließ darauf schließen, dass sie nicht aus der niederen Gesellschaftsschicht kam. Und doch war sie ärmlich gekleidet. War sie davongelaufen? Aber sie verhielt sich nicht wie jemand, der fürchtete, verfolgt zu werden. Zudem war ihr Benehmen das einer selbstständigen Frau und nicht das einer entlaufenen Tochter. Ihre Schönheit schien sie nicht zu kümmern, und doch sollte man annehmen, dass eine so überdurchschnittlich gut aussehende Frau sich ihrer Wirkung auf Männer bewusst war. Entweder war sie vorsichtig, oder sie setzte ihr Aussehen bewusst ein. Aber nichts dergleichen konnte er in Vivianas Verhalten feststellen. Sie war einfach sie selbst, und diese Person war dabei, Julians Herzen gefährlich nahezukommen.
Während Julian die Pferde und das Maultier tränkte, packte Viviana das Proviantpaket aus. Es enthielt ein rundes Brot mit harter Kruste, einen Ziegenkäse und fünf dicke Scheiben kalten Braten. Sie waren, als sie von der Straße abbogen, an einem langgestreckten Brombeergebüsch vorbeigekommen, und Viviana ging zurück, um einige von den reifen Früchten einzusammeln. Als sie mit ihrem provisorischen Taschentuchbündel voller Beeren zurückkam, war Julian auch wieder da.
»Ist es nicht herrlich, so ein schöner Sommertag!« Sie reichte Julian ein Stück Brot und eine Scheibe Braten.
»Ein bisschen zu warm für einen Reisetag«, antwortete er, und Rinaldo nickte.
»Es ist sehr heiß. In meiner Heimat macht man eine lange Mittagspause, man verschwendet sonst zu viel Kraft, um gegen die Hitze anzuarbeiten.«
Julian blickte in den wolkenlosen blauen Himmel und dann auf den dicken Rinaldo, der an dem Baumstamm lehnte und schwitzte.
»So sollten wir es heute auch halten. Statt dass wir uns durch die Mittagshitze kämpfen, sollten sich die Tiere ausruhen. Wenn wir erst am Nachmittag weiterziehen, werden wir schneller vorankommen. Außerdem ist es lange hell und« – er blickte wieder in den Himmel – »wenn das Wetter hält, haben wir
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