Das Amulett der Pilgerin - Roman
irgendetwas zum Heiligen George ein?«
»Wieso George? Das ist doch der Michael.«
»Saint Michael?« Julian untersuchte den Sockel erneut. Der Heilige stand auf einer Miniaturlandschaft und stieß seine Lanze in einen etwas größeren Drachen. Das konnte natürlich auch Michael sein, ebenfalls ein Drachentöter. Der Heilige George war in England sehr beliebt, und so hatte Julian spontan an ihn gedacht. Sein Blick fiel auf die kleine Abbildung einer Kirche auf dem Sockel. Er tippte mit dem Finger auf den Stein.
»Die Liste ist gar nicht hier, sie ist in der anderen Pilgerkirche, Saint Michaels.«
»Meine Güte!«, entfuhr es Viviana. »Ich hätte mehr Geld verlangen sollen. So ein Aufwand.«
»Dann macht auch die letzte Anweisung einen Sinn.«
Die Flamme von Vivianas Kerzenstummel flackerte und verlosch. Im Dunkeln tappten sie zurück zur Sakristei. Sie hatten die Tür fast erreicht, als sie plötzlich ein Geräusch hörten und Licht zu sehen war.
Blitzschnell glitt Viviana unter den Tisch, der vor dem Altar stand und der mit einem bodenlangen, schweren Seidentuch bedeckt war. Schritte waren zu hören, und das Licht bewegte sich langsam den Mittelgang herunter. Viviana hörte das leicht gepresste Atmen, wenn sich jemand vorbeugte und wieder aufrichtete. Immer wieder verharrte das Licht an einer Stelle. Sie wagte kaum zu atmen, und ihr linkes Bein war so unglücklich eingeklemmt, dass es sich bereits taub anfühlte. Das war gar nicht gut, wenn man möglicherweise schnell weglaufen musste. Die Füße blieben direkt vor dem Tisch stehen, und das Licht wurde abgestellt. Jemand ging langsam um den Tisch herum. Jemand suchte etwas. Ihre Hand schloss sich um den Griff ihres Dolches. Sie fragte sich, wo Julian sich versteckt hatte. Das Seidentuch wurde bewegt, sie war entdeckt worden. Ihr Körper spannte sich an, Angriff war die beste Verteidigung, und sie befand sich in einer denkbar schlechten Position. Das Seidentuch wurde zurückgeschoben und gab den Blick auf ein Paar Sandalen frei. Die Füße, die in ihnen steckten, waren alt und hätten mal abgeschrubbt werden müssen. Fast hätte sie laut gelacht. Das Seidentuch wurde wieder nach unten geschoben und so begradigt, dass es parallel zum Fußboden hing. Dann wurde die Kerze wieder aufgenommen und die Schritte entfernten sich, bis schließlich die Haupttür geschlossen wurde. Viviana kam unter dem Tisch hervor und prustete hinter vorgehaltener Hand los. Julian löste sich von der Nische hinter dem Heiligen Columban.
»Meine Güte, ich hätte fast den armen Priester erschlagen.«
»Ich hätte ihn fast abgestochen.«
»Wie ein Schwein.«
»Genau.« Viviana kicherte. »Nur seine Füße haben ihn gerettet.«
»Er muss das Licht gesehen haben.«
»Warum schläft er nachts auch nicht wie alle gottesfürchtigen Menschen?«, fragte Viviana, als sie auf die Kommode in der Sakristei stieg, um wieder aus dem Fenster hinauszuklettern.
»Er ist alt. Alte Menschen schlafen nicht mehr so viel. Wahrscheinlich, weil sie die wenige ihnen verbleibende Zeit auskosten wollen.«
Sie standen wieder auf dem Friedhof. Der Mond war untergegangen, und es würde bald tagen.
»Saint Michaels ist nicht weit, wollen wir dort gleich nachsehen?«
Julian schüttelte den Kopf.
»Es wäre besser, wenn wir uns bei Tage einen Eindruck verschaffen, statt im Dunklen herumzusuchen.«
»Hoffentlich deuten wir die Anweisungen auch richtig, sonst wird es wirklich kompliziert.«
»Anweisungen, die man deuten muss, taugen nichts«, brummte Julian.
»Angeblich kommt man leichter durcheinander, wenn die Instruktionen aus einem herausgefoltert werden sollen.«
Sie erreichten die Pferde.
»Aber das ist Unsinn«, fuhr sie fort. »Glaub mir, wenn du gefoltert wirst, erinnerst du dich genau an das, was dir gesagt wurde.«
Der Gedanke, dass Viviana ein Opfer von Folter geworden war, brachte Julian etwas aus der Fassung. Sie stiegen auf und ritten zurück zu Berts Gasthaus.
• 19 •
N ach ein paar Stunden Schlaf und einem späten Frühstück machten sie sich auf den Weg zur zweiten Pilgerkirche Saint Michaels. Was Julian gestern Nacht als großartige Eingebung erschienen war, fand er bei Tageslicht nicht mehr ganz so wahrscheinlich.
»Es ist nicht mehr als eine Vermutung, aber wir müssen es trotzdem überprüfen.«
»Die Liste muss ja irgendwo sein. Ich habe auch keine bessere Idee.«
Diesmal gingen sie zu Fuß. Viviana blieb vor den Auslagen eines Händlers stehen, um einen bestickten Beutel
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