Das Amulett der Pilgerin - Roman
die Wand gelehnt auf dem Boden saß.
»Guten Tag, Rinaldo.«
Viviana folgte Melchor Thorn aus der Wachstation. Er hatte Julian in große Schwierigkeiten gebracht. Wer mit solchen Männern zusammenarbeiten musste, brauchte eigentlich gar keine Feinde. Eine der Wachen folgte ihnen, um sicherzustellen, dass Viviana nicht versuchte zu flüchten. Melchors grüner Umhang fegte den Staub der Straße auf. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und es war warm, aber trotzdem schien Melchor Thorn nicht zu schwitzen. Sie musste sich blitzschnell überlegen, wie sie ihren letzten Trumpf ausspielen konnte. Aber dazu musste sie wissen, auf welcher Seite Thorn stand. Sie hatte nicht die geringsten Zweifel, dass er sie auf der Stelle töten würde, wenn sie ihm nicht mehr dienlich war. Er würde sich nicht an die Abmachungen halten. Thorn war gerissen, und er hätte Julian nicht festnehmen lassen, wenn er nicht etwas geplant hatte, um die Anschuldigungen zu untermauern. Es würde für ihn sonst eher von Nachteil sein, übereifrig einen Unschuldigen festgesetzt zu haben. Thorn hatte Größeres vor. Er brauchte Julian als Sündenbock.
Sie erreichten eine große Schenke, und Viviana wunderte sich, warum er sie hierhergeführt hatte. Er schickte die Wache zurück zu ihrer Station. Die private Gästekammer im ersten Stock ging nach Norden hinaus und war angenehm kühl. Der Dielenboden glänzte frisch gescheuert und geölt, und man hatte duftende Blütenblätter ausgestreut, um dem Gestank der Straße zu trotzen. Die Blüten waren inzwischen verwelkt, erfüllten aber den Raum immer noch mit einem süßlichen Aroma. Melchor Thorn bedeutete Viviana, sich zu setzen, und sie ließ sich graziös in einem der bequemen Holzsessel nieder.
»Also« – Melchor Thorn streckte die Hand aus – »den Code zur Entschlüsselung der Liste.«
»Auf welcher Seite stehen Sie? Ich dachte, Sie gehörten zu den Leuten des Kardinals.«
»Das braucht Sie nicht zu interessieren.«
»Es muss mich aber interessieren, immerhin habe ich einen Auftrag zu erfüllen.« Viviana schloss erschöpft kurz die Augen, um sie dann mit einem atemberaubenden Schwung ihrer langen Wimpern wieder zu öffnen und Melchor Thorn anzusehen. Der Ausdruck in ihren Augen sagte, dass sie trotz allem nur eine schwache Frau und allmählich am Ende ihrer Kräfte war.
Melchor Thorns Gesicht verriet Überraschung. Sein Blick lag kurz auf Vivianas Dekolleté und dann wieder auf ihrem schönen Gesicht. Viviana schien, wenn auch widerstrebend, um die Hilfe eines starken Mannes zu bitten. Er lehnte sich zurück und runzelte die Stirn.
Sie hatte ihn bei ihrem ersten Treffen in Shaftesbury richtig eingeschätzt, dachte Viviana. Wenn sie es geschickt anstellte, würde sie Zeit gewinnen können.
»Machen Sie mit den Männern, die das Gasthaus niedergebrannt haben, gemeinsame Sache?« Ihre Lippen zitterten kaum, aber eben doch merklich, und ihre Augen schimmerten feucht. Heldenhaft blinzelte sie ihre Tränen zurück, in der Hoffnung, dass ihr Gegenüber sie nicht bemerkt hätte. Das jedenfalls sollte er denken und tat es auch.
»Sie haben mir wehgetan, und ich werde die Liste nicht für diese Bestien entschlüsseln.«
Melchor Thorn war auf diese Wendung der Dinge nicht vorbereitet. Sein erster Eindruck von Viviana war der einer starken Frau gewesen, aber er schien sich getäuscht zu haben.
»Selbst wenn ich Sie dafür töten würde?«
Viviana reckte das Kinn vor.
Das war die Schwierigkeit, wenn man es mit Frauen zu tun hatte, dachte Melchor. Sie waren eigenwillig und stur bis zur Selbstaufgabe. Er konnte sich vorstellen, was sich abgespielt hatte. Hugh Bigods glatzköpfiger Handlanger war ein brutaler Klotz ohne jede Finesse. Melchor waren bereits Zweifel gekommen, ob eine Zusammenarbeit mit dem Earl of Norfolk in dieser Angelegenheit tatsächlich zu seinem Vorteil sein würde. Außerdem ärgerte ihn der Ton, den der Glatzkopf ihm gegenüber anschlug. Wenn er ihm nicht den Hinweis auf Berts Gasthaus gegeben hätte, hätten sie die Liste immer noch nicht. Doch die Karten waren neu gemischt worden. Die Liste war verschlüsselt, und er, Melchor, war im Besitz der einzigen Person, die sie entziffern konnte. Das nahm er jedenfalls an. Er betrachtete Viviana, die sich besonders vorteilhaft in ihren Sessel drapiert hatte. Er könnte sie foltern, aber es war immer schwierig, komplizierte Informationen aus jemandem herauszufoltern. Außerdem wäre es schade um sie. Lieber wollte er sie besitzen.
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