Das Amulett der Pilgerin - Roman
ihm haben könnte. Viviana kannte seine Art und wusste mit ihm umzugehen.
»Ich habe mein Gepäck verloren und würde mich gerne ein bisschen hübsch machen.«
Wieder erschien auf Melchors Gesicht die Andeutung eines Lächelns. Viviana fragte sich, ob er überhaupt richtig lächeln oder gar lachen konnte. Für einen Moment sah sie Julian vor sich, wie er sie verschmitzt angrinste und seine grünen Augen amüsiert Funken sprühten.
Melchor Thorn hatte Viviana eine der Schlafkammern im oberen Stockwerk zugewiesen. Ein Mädchen hatte Wasser zum Waschen und ein Tablett mit kaltem Braten, Brot und Brombeerkompott gebracht. Wenig später war eine Schneiderin mit einem Arm voller Kleider gekommen. Viviana entschied sich für ein schmales, dunkelgrünes Wollkleid, dessen Rock ihr bequemes Reiten ermöglichte. Es hatte einen tiefen Ausschnitt und war mit goldenen Bändern verziert. Die Schneiderin nickte wohlgefällig, als sie Viviana betrachtete. Melchor hatte ihr gesagt, dass sie in dem Zimmer bleiben sollte, bis er die Liste an sich genommen hatte. Viviana vermutete, dass es damit zu tun hatte, weil sie so klein und zierlich war, dass Männer dazu neigten, sie für hilflos zu halten. Selbst ein gerissener Mann wie Melchor Thorn, der es eigentlich besser wissen müsste, war dieser Fehleinschätzung zum Opfer gefallen. Sie machte sich keine Illusionen, denn er würde sie skrupellos töten, wenn es zu seinem Vorteil wäre. Aber er begehrte sie, und das war der wunde Punkt im Kopf eines jeden Mannes. Viviana entließ die Schneiderin, nicht ohne sich noch ein weiteres neues Unterkleid und eine Anzahl schmückender Bänder und Toilettenartikel auf Melchor Thorns Kosten zu kaufen, legte sich auf das Bett und schloss die Augen.
Melchor Thorn spielte ein doppeltes Spiel! Eigentlich war es sogar ein dreifaches Spiel. König Henrys Geheime Kanzlei hatte Wind von der Verschwörung bekommen und Vivianas Identität als Kurier entdeckt. Julian hatte sie festgenommen, und sie war gezwungen gewesen, für ihr Leben die Liste preiszugeben. Melchor Thorn wollte die Situation nun zu seinem eigenen Vorteil nutzen und die Pläne des Kardinals vereiteln. Er hatte irgendwie herausgefunden, wer die Empfänger waren, und wollte die Liste an sie verkaufen. Als es ihm jedoch nicht gelang, Julian in Saint Albans auszubooten, hatte er den Glatzkopf auf sie gehetzt. So waren die Verschwörer in England nun doch zu ihrem Pergament gekommen. Aber sie hatten sich nicht an die Regeln des Spiels gehalten, und deshalb hatten sie jetzt eine wertlose Liste. Nur für Melchor Thorn wurde es immer besser. Er war auf die Idee gekommen, und Viviana hatte dabei noch nachgeholfen, ein erheblich größeres Geschäft zu machen. Er wollte nicht mehr Handlanger eines Verschwörers sein, sondern selbst einer werden. Das war gar nicht gut für König Henry und auch nicht für Julian, der jetzt der Sündenbock war.
Das Klopfen an der Tür unterbrach Vivianas Gedanken. Sie stand auf und öffnete die Tür. Melchor trat ein.
»Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, Mademoiselle Viviana«, sagte er und betrachtete sie genießerisch.
»Es hatte auch seinen Preis«, entgegnete sie und lächelte kokett.
»Ich verfüge über ausreichende Mittel.«
»Wie angenehm«, schnurrte sie und ging zum Fenster, um etwas Distanz zwischen sich und Thorns begehrlichen Blick zu bringen.
»Haben Sie die Liste bekommen?«
Er nickte.
»Es sollte einige Zeit dauern, bis sie bemerken, dass die Liste nicht mehr da ist.«
Viviana war enttäuscht, sagte aber: »Sehr elegant gelöst.«
»Ich muss noch etwas erledigen und bin in einer halben Stunde zurück. Dann brechen wir auf. Sie sollten in der Kammer bleiben, Viviana, denn die Männer wohnen in dem gleichen Flügel am Ende des Ganges. Zwar haben sie schon ihre Pferde satteln lassen, aber wir sollten kein Wagnis eingehen.«
Viviana machte eine Miene unterdrückter Bestürzung und schüttelte vehement den Kopf.
»Keine Sorge, hier sind Sie sicher.«
Damit ging er und schloss die Tür hinter sich. Viviana setzte sich missgelaunt auf das Bett. Sie hatte gehofft, dass Thorn den Glatzkopf töten würde, stattdessen hatte er nur die Liste getauscht. Das an sich war natürlich keine schlechte Idee, aber Viviana wollte es den Brandstiftern heimzahlen. Sie versuchte, die wilde Wut, die in ihr tobte, zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Was geschehen war, ließ sich nicht rückgängig machen, Rache würde das nicht ändern. Normalerweise
Weitere Kostenlose Bücher