Das Amulett der Seelentropfen (Seelenseher-Trilogie) (German Edition)
sich anfühlten als wären sie aus Wackelpudding, drückte ich mich an der Wand hinauf.
Mit langsamen Schritten umrundete ich den Tisch, dabei entging mir allerdings nicht der größte und am meisten verzierte aller Stühle. Er konnte nur für das Oberhaupt des Ordens bestimmt sein. Ich erkannte, dass ich recht hatte, als ich den brüllenden Löwen sah, der in die Lehne eingeschnitzt war. Der Stuhl zur Rechten war nicht viel kleiner und auch nicht weniger aufwendig. Auf seiner Lehne prangte der edle Kopf eines Adlers. Der Stuhl des Schützers.
Diese Halle hier musste der Hauptsitz des Ordens gewesen sein. Das würde auch die doppelte Sicherung erklären und die vielen wertvollen Bücher. Solem war früher die Stadt des Ordens von Alverra gewesen. Nun war sie die Stadt des Zirkels. Welch eine traurige Entwicklung. Ich lehnte mich weit über den Tisch, um das Podest zu erreichen. Fast wäre es mir unmöglich gewesen die Schatulle zu holen, ohne auf den Tisch zu steigen. Etwas, das ich nur ungern getan hätte. Als ich sie in der Hand hielt, setze ich mich vorsichtig auf den Stuhl des Oberhaupts. Oder besser gesagt auf meinen Stuhl.
Ich hörte Keiras leises Stöhnen, als auch sie sich aufraffte und zu mir kam. Ich betrachtete immer noch das kleine Kästchen, für das wir soeben unser Leben riskiert hatten.
»Setz dich in deinen Stuhl«, sagte ich zu ihr mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in diesem Stuhl zu sitzen mit dem Wissen, wie viele meiner Ahnen auch schon hier gesessen haben mussten.
»Meinen Stuhl?«
Keira sah mich ratlos an, bis ihr Blick auf den Adler in der Lehne fiel. Auch sie musste lächeln. Bis jetzt war uns beiden nicht klar gewesen, wie alt unsere Orden waren oder wie real. Sie setzte sich mit einer ebenso respektvollen Miene, wie ich es getan hatte. Sie fühlte mit den Fingern über das fein gearbeitete Holz.
»Glaubst du, da ist das Amulett drin?«
Sie betrachtete die Schatulle genauso erwartungsvoll wie ich. Ich drehte sie noch einmal in meinen Händen und betrachtete jede Seite. Sie war aus einem dunklen Nussbaumholz. In ihre Seiten waren kleine herumlaufende Girlanden eingeschnitzt, die mit viel Feingefühl nachgemalt waren. Auf dem Deckel war das vertraute Symbol des brüllenden Löwen, über dessen Kopf ein Adler schwebte. Ich glitt mit meinen Fingern darüber. Es war so detailreich, dass sogar die Lichtreflexe in den Pupillen der Tiere zu sehen waren. Ich folgte mit dem Finger einem feinen Metallaufsatz, der sich über die Kante schwang und die Schatulle verschloss. Er rollte sich auf der vorderen Seite zu zwei getrennten Kreisen zusammen. Wieder würden unsere Ringe als Schlüssel funktionieren.
»Dein Ring«, sagte ich zu Keira. Sie hatte ihn bereits abgezogen und hielt ihn mir hin. Zusammen mit meinem legte ich sie in die Vorrichtung. Es klickte und ich konnte ein feines leises Geräusch von arbeitenden Zahnrädern hören. Die Schatulle schnappte auf und offenbarte ihr Innerstes. Ich war ein wenig enttäuscht, als ich darin nichts weiter entdecken konnte, als einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Er musste schon sehr alt sein. Er war völlig vergilbt und franste an den Rändern aus. Er sah auch eher aus wie ein Stück Papyrus als wie modernes glattes weißes Papier. Es sah aus, als würde es bei der nächsten Berührung in Staub zerfallen. So viele der wertvollen Bücher ich auch gesehen hatte, ich war mir sicher, dass keines von ihnen so kostbar war, wie dieser Fetzen alten Papiers.
Ich hob es mit den Fingerspitzen heraus. Der Zerfall blieb vorerst aus. Vorsichtig faltete ich es auseinander. Es war nur einmal geknickt worden. Die Schrift, die sich jetzt offenbarte, war so fein und zierlich, dass ich fast schon bezweifelte, dass ein Mensch es geschrieben haben konnte. Es waren nur wenige Zeilen. Aufgebaut wie ein Gedicht. Es war kein Rätsel meines Großvaters, soviel war schon einmal sicher. Keira beugte sich aus ihrem Stuhl zu mir und versuchte ebenfalls, die außergewöhnliche Schrift zu entziffern.
Begehrt das gespaltene Herz zu finden
der Welt kostbarste Tropfen.
Suchen muss sie, die alleine steht,
den Ort wo die Zeit nicht vergeht
und gesehen wird alles Leben das vorüber zieht unter dem ständigen Lied.
Immer wieder las ich den Reim. Bis ich ihn verinnerlicht hatte wie meinen eigenen Herzschlag. Er war in mir verewigt. Ich würde ihn nie vergessen. Auch wenn das nicht bedeutete, dass ich ihn verstand. Denn das tat ich nicht. Es
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