Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
geschossen und wäre ihm überallhin gefolgt.
Glücklicherweise lagen Jahre hart erarbeiteter, teuer bezahlter Weisheit zwischen ihr und dieser Zwanzigjährigen. Von ihm konnte sie das nicht behaupten. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig, höchstens dreißig. Nicht, dass sein Alter eine größere Rolle spielen würde als sein Model-Aussehen, erklärte sie sich streng. Es interessierte sie nicht einmal, wie der plötzliche Sturm ihrer Sinne mit ihm zusammenhing. Sie wusste nur, dass sie dem Ganzen ein Ende bereiten musste.
Sie fing damit an, dass sie die Schultern straffte und sich abwandte. Als Nächstes atmete sie tief durch und befahl ihren Füßen, sich in Bewegung zu setzen. Und sie bewegten sich. Langsam und in die richtige Richtung, auf die Damentoilette zu. Sie wollte ein paar Minuten allein sein, um sich wieder zu fangen. Sie fühlte sich noch immer so stark zu ihm hingezogen, dass sie das Gefühl hatte, durch Sirup zu gehen. Noch schlimmer, sie wollte zurückgehen oder sich zumindest umdrehen und ihn noch mal ansehen. Sie zwang sich, weiterzugehen, und das Gefühl wurde schwächer, als die Entfernung zwischen ihnen zunahm. Als sie die Toilette endlich erreichte, war es nur noch ein leichtes Kribbeln und eine Erinnerung.
Sie eilte durch den Vorraum mit seinen mit rotem Damast bezogenen Sesseln und den golden gerahmten Spiegeln und in die erste freie Kabine. Sie verschloss die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und wartete darauf, dass ihr Kopf wieder klarwurde, ihr Herz aufhörte zu rasen und die Welt wieder in gewohnte Bahnen zurückkehrte. Was gerade passiert war, ergab keinen Sinn. Magie hatte in ihrem Leben keinen Platz mehr. Sie war nur ein Teil ihrer Vergangenheit.
Und ein Teil deines Blutes, erinnerte sie eine innere Stimme.
Eve schloss die Augen und atmete tief durch. Die Stimme hatte natürlich recht. Ob es ihr gefiel oder nicht, Magie war immer eine Sache des Blutes. Sie war als Zauberin geboren worden, mit all den Wundern und Komplikationen, die damit zusammenhingen.
Früher, bevor sie es besser wusste, hatte sie das genauso vorbehaltlos akzeptiert wie die Tatsache, dass sie lange Beine und grüne Augen hatte. Sie hatte diesem Geburtsrecht ihr Leben und ihr Herz geöffnet, als wäre es ein Segen und kein Fluch. Und für diesen Fehler hatte sie mit einem Teil ihres Herzens bezahlt. Und als die Magie ein weiteres Mal ihren Tribut forderte und Eve einen hohen Preis entrichtete, wandte sie sich von ihr ab. Sie würde nicht noch mal zahlen, und, noch wichtiger, genauso wenig würde jemand darunter leiden, der ihr wichtig war. Dafür hatte sie gesorgt, indem sie sich niemals, wirklich niemals mit Magie beschäftigte, und im Gegenzug hielt die Magie sich aus ihrem Leben heraus.
Bis heute Abend.
Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass Magie für das verantwortlich war, was gerade geschehen war. Aber sie verstand nicht warum. Konnte es ein simpler Zufall sein? Ein mystischer Ausrutscher? Und was war mit dem Kerl in dem schwarzen Mantel … war er für das Energiefeld verantwortlich, oder war er wie sie nur zufällig darin gefangen worden?
Wenn es ein Zufall und sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war, dann konnte sie es einfach beiseitewischen. Aber wenn es mehr war, wenn jemand, oder etwas, sie ins Visier genommen hatte, dann … dann, gestand sie sich grimmig ein, wäre sie wahrscheinlich nicht so billig davongekommen.
Außer, dachte Eve, jemand wollte sie auf die Probe stellen.
Mit einem Stirnrunzeln dachte sie über diese Möglichkeit nach. Es ergab keinen Sinn. Aber, überlegte sie mit einer gewissen Verachtung, Magie brauchte ja genauso wenig Sinn ergeben, wie sie sich an die Gesetze der Menschen oder der Physik halten musste. Magie folgte eigenen Regeln. Es war eine Welt geheimnisvoller, uralter Gesetze und dunkler Prophezeiungen, eine Welt, in der Wissen Macht war und Macht alles. Eve besaß nichts davon, und sie war sich über zwei Dinge sicher – zumindest so sicher, wie man bei Magie sein konnte: Wenn jemand sie als Opfer ausgewählt hatte, steckte sie in Schwierigkeiten. Und wenn jemand sie auf die Probe stellte, sollte sie besser nicht versagen.
Nur aus diesem Grund weigerte sie sich, der starken Versuchung nachzugeben, Kopfweh vorzutäuschen und so schnell wie möglich nach Hause zu eilen. Das war ihr erster Impuls gewesen, und ein Teil von ihr wollte immer noch nichts anderes als raus. Aber wegzulaufen sah nach Schwäche aus, und das war nicht das
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