Das Amulett des Dschinns
Dämmerung in das vielleicht größte Freiluftrestaurant der Welt.
Die Sonne sank bereits am Horizont, als Lauren über den Platz flanierte. Sie hatte so etwas noch nie zuvor gesehen, und die lärmend-orientalische und zugleich geheimnisvolle Atmosphäre dieses Ortes zog sie gleich in ihren Bann. Hier gab es alle Arten von Menschen, Taschenspieler und Gaukler. Eine runzelige alte Frau bot Lauren an, ihr die Zukunft vorauszusagen, doch sie schüttelte nur abwesend den Kopf. In jeder anderen Situation hätte sie das Angebot vermutlich begeistert angenommen. Doch es drangen einfach zu viele fremdartige, exotische Eindrücke auf sie ein, sodass sie sich einfach nicht darauf konzentrieren konnte.
Lauren sah einen Schlangenbeschwörer, der, umringt von Schaulustigen, eine Kobra dazu brachte, sich aus einem Bastkorb emporzuschlängeln. Die Schlange wiegte sich zischend zum Klang der Flöte, obwohl sie, wie Lauren wusste, überhaupt nicht hören konnte. Sie wandte sich ab und ging weiter, vorbei an Künstlern, die innerhalb kürzester Zeit herrliche Porträts zeichneten. Die Luft war erfüllt von Lärm. Klappernde Töpfe, die Klänge von Musikern und Sängern, der begeisterte Jubel des Publikums – das alles vermischte sich zu einem Durcheinander, das Laurens Kopf schwirren ließ.
Und dann die vielen verschiedenen Gerüche! Fisch, Fleisch, Meeresfrüchte und Gemüse – alles wurde frisch zubereitet verkauft. Lauren wusste nicht so recht, ob sie sich von dem bunten Durcheinander angezogen oder abgestoßen fühlen sollte. Fest stand, dass ihr Magen sich lautstark meldete, außerdem war ihr schrecklich heiß.
Als sie an einem kleinen Café vorbeikam, in dem es noch einige freie Plätze gab, trat sie ein und bestellte sich einen Pfefferminztee und das gebratene Hühnchen, das ihr der Kellner als Spezialität des Abends anpries. Sobald der Teller aber schließlich vor ihr stand, verging ihr zunächst der Appetit, denn das Huhn sah absolut nicht so aus, wie sie es von zu Hause gewöhnt war. Doch als ihr Magen protestierend knurrte, beschloss sie, es wenigstens zu probieren.
Sie wurde überrascht. Das Essen war ganz köstlich, und sie stopfte es mit großem Heißhunger in sich hinein. Danach fühlte sie sich besser und bestellte einen weiteren Pfefferminztee. Den hatte sie schon früher immer am liebsten bei großer Hitze getrunken. Ihre marokkanische Mutter hatte ihr erklärt, dass man mit eiskalten Getränken, wie die meisten Menschen sie im Sommer hinunterstürzten, alles nur verschlimmerte. Einmal mehr stellte sie fest, dass es stimmte. Nach den zwei Tassen Tee fühlte Lauren sich richtiggehend erfrischt.
Sie blickte sich im Café um, offenbar wurde es vor allem von Einheimischen besucht, denn abgesehen von ihr hielt sich kein Europäer hier auf. An der Bar entdeckte sie einen jungen Mann. Obwohl sie ihn nur von hinten sehen konnte, spürte sie, wie sich ein merkwürdiges Kribbeln in ihrer Magengegend ausbreitete.
Irritiert über ihre seltsame Reaktion, schüttelte sie den Kopf. Doch als der Unbekannte, der ihren Blick offenbar gespürt hatte, sich zu ihr umdrehte, stockte ihr der Atem.
Er war in etwa so alt wie sie, höchstens aber Mitte zwanzig. Wie die meisten Araber hatte er dunkles Haar und eine Haut, die im Licht der Beleuchtung des Cafés golden schimmerte. Seine Lippen waren fein geschwungen, er besaß hohe Wangenknochen und eine gerade Nase. Doch am meisten fesselte Lauren der Blick seiner Augen, die von einem klaren Eisblau waren, wie sie es bei einem Nordafrikaner noch nie gesehen hatte.
Seine Kleidung dagegen war typisch westlich, er trug Jeans und T-Shirt, dazu bequeme Sneakers. Er sah mindestens ebenso gut aus wie Tahir, der Junge aus ihren Träumen – der Dschinn –, wenn auch auf eine völlig andere Art und Weise.
Aber im Gegensatz zu Tahir wirkte sein Blick alles andere als freundlich.
Unwillkürlich zuckte Lauren zusammen. Fast schon feindselig starrte der Typ in ihre Richtung. In der Hoffnung, dass dieser Blick womöglich einer anderen Person galt, die irgendwo hinter ihr saß, drehte sie sich um. Doch da war niemand.
Eindeutig, der Typ starrte sie an! Aber wieso? Sie kannte ihn doch gar nicht! Einen Augenblick lang spielte Lauren mit dem Gedanken, einfach zu ihm hinzugehen, um ihn zur Rede zu stellen. Doch sie entschied sich dagegen. Dies war ein ihr fremdes Land, und es galten andere Sitten als zu Hause in England. Und gut aussehend hin oder her – sie wusste nicht, ob der Fremde
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