Das Amulett des Dschinns
traf es wohl am ehesten. Das fing schon bei ihrem Aussehen an: Ihr schulterlanges Haar war mittelblond und wirkte, obwohl sie es, wie Lauren wusste, regelmäßig pflegte, stumpf und glanzlos. Und ganz gleich, wie lange sich Prue in der Sonne aufhielt, ihre Haut blieb eigentlich immer winterlich bleich. Sie war weder dick noch dünn, ihre Kleidung eher unauffällig – kurz gesagt: Prue war die typische graue Maus.
Ganz anders also als Lauren, die früher zu den angesagten Leuten gehört hatte, die bestimmten, wer akzeptiert wurde und wer nicht.
Im Nachhinein fragte sich Lauren inzwischen manchmal, warum sie zu Hause eigentlich so beliebt gewesen war. Was war das Besondere, das die Leute in ihrem Heimatort Summerston offenbar in ihr sahen – ihre Kommilitonen in London hingegen nicht?
Sie war behütet und sorglos aufgewachsen. Ihr Vater war der einzige Arzt des Städtchens, ihre Mutter ein ehemaliges Model mit marokkanischen Wurzeln. Beide waren sehr erfolgreich und überall gut angesehen, beide vielfältig engagiert bei wohltätigen Einrichtungen. Doch allein die Tatsache, dass sie aus gutem Haus kam, reichte Lauren als Erklärung nicht.
Vielleicht solltest du mal eine deiner alten Freundinnen anrufen und sie danach fragen, sagte sie sich. Aber wie auch immer das Geheimnis ihrer Beliebtheit von früher aussehen mochte – es schien seine Wirkung praktisch über Nacht verloren zu haben. Dabei war sie einst so sicher gewesen, dass sich niemals etwas ändern würde. Doch nur ein paar Tage in London hatten letztlich gereicht, um ihr vor Augen zu führen, wie sehr sie sich getäuscht hatte.
An der Metropolitan University war sie plötzlich nur noch eine von vielen. Dort interessierte es niemanden, dass sie mit sechzehn zur beliebtesten Schülerin der Schule gewählt worden war, und keinen juckte es, dass sie mal mit dem Kapitän des Rugbyteams gegangen war. Im Gegenteil: Man hatte sie gleich als Landei abgestempelt und sich wegen ihres Cornwallakzents über sie lustig gemacht.
Allen voran Kylie Graham, die in London geboren und aufgewachsen und ein echtes It-Girl war.
Für sie war das Studium sozusagen ein Heimspiel, und keiner, der von außerhalb kam, konnte in irgendeiner Weise mit ihr mithalten. Leider dachten die Leute aus der Clique, die sich um sie versammelt hatte, ganz ähnlich. Und so war es Lauren von Anfang an nicht gelungen, auch nur einen Fuß auf den Boden zu bekommen.
Zum Glück hatte sie Prue, die immer für sie da war. Manchmal dachte Lauren mit einem Anflug von schlechtem Gewissen daran, dass sie ihre neue Freundin früher vermutlich nicht einmal bemerkt hätte.
Zum ersten Mal begegnet waren sie sich an der Uni. Kylie hatte Lauren wieder einmal einen blöden Spruch an den Kopf geworfen, da war Prue plötzlich aufgetaucht und hatte sich auf Laurens Seite gestellt. Natürlich hatte Prue dafür einige Beleidigungen von Kylie und ihren Freundinnen kassiert, doch das schien ihr überhaupt nichts auszumachen.
Seit jenem Tag gehörten Prue und sie zusammen wie Pech und Schwefel. Das bedeutete aber nicht, dass Lauren nicht trotzdem oft den goldenen alten Zeiten nachtrauerte, in denen sie sich noch nicht auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis befunden hatte.
Lauren wurde aus ihren trüben Gedanken gerissen, als Prue sie mit dem Ellenbogen anstieß. „Hey, träumst du? Dein Koffer kommt!“
Sofort verfinsterte sich Laurens Miene, als sie feststellte, dass ihr Koffer – wie sollte es auch anders sein – das letzte Gepäckstück war, das auf dem Band erschien. Seufzend nahm sie ihn an sich und stellte ihn auf den Gepäckwagen, auf dem sich schon Prues Reisetasche befand. Wie um sich für alles Weitere zu wappnen, atmete sie einmal tief durch. Na, dann mal los …
Nachdem Prue und sie die Zollabfertigung hinter sich gebracht hatten, traten sie zu den anderen Studenten, die bereits ungeduldig auf sie warteten. Kylie konnte sich einen abfälligen Kommentar wieder mal nicht verkneifen, aber Lauren tat einfach so, als hätte sie nichts gehört. Dann führte Professor Johnson, der Leiter ihrer Exkursion, sie aus dem Flughafengebäude zu einem Bus, der in der prallen Sonne stand – natürlich unklimatisiert.
Lauren war trotzdem froh, als sie endlich zusammen mit Prue im hinteren Teil des Fahrzeugs saß, außerhalb von Kylies Blickfeld, die sich mit ihren Freundinnen ganz vorne niedergelassen hatte. Kurz darauf ging die Fahrt auch schon los.
„Hey, lass dir doch von denen nicht die ganze Reise
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