Das Amulett
Arm aus, und ein fünfter Rabe erhob sich in die Lüfte, flatterte aufgeregt davon, dicht gefolgt von den übrigen.
»Ihr seid meinem Ruf also gefolgt!«, erklang eine durchdringende Stimme. Sie hallte in sich, als hätte nicht eine einzelne Gestalt, sondern ein ganzer Chor die Worte ausgesprochen. Der Klang fuhr Tharador in Mark und Bein, versetzte seinen Körper in Schwingungen. Ohne etwas hinzuzufügen oder auf eine Antwort zu warten, drehte die Gestalt sich um und schritt auf sie zu. Tharador konnte nur wie gebannt in golden glühende Augen blicken.
Der Fremde bewegte sich auf sie zu. Seine kräftigen Hufe hinterließen tiefe Abdrücke in dem weichen Waldboden und erschütterten die Erde. Tharador konnte seinen heißen Atem spüren, obwohl er sich noch über zehn Schritte entfernt befand. Das Gesicht war von sonnengebräunter, ledriger Haut überzogen, die Brust bis zum Nabel hinab behaart. Dort ging der Körper des Mannes in den des Hengstes über, und die gebräunte Haut wich einem nussbraunen, dichten Fell.
Das Fell war länger als bei den Pferden, die Tharador aus seiner Welt kannte. Es wirkte beinah zottelig und verdeckte manche Konturen des massigen Körpers. Doch so sehr ihn der Anblick des seltsamen Wesens beeindruckte, nur die golden glühenden Augen vermochten, ihn zu fesseln.
»Ein Zentaur«, stellte Khalldeg nüchtern fest.
Plötzlich löste die Gestalt des Fremden sich auf; nur ein leuchtendes, durchschimmerndes Abbild von ihm blieb zurück. Der Wind trug diesen Schemen mit einer sanften Böe zu ihnen heran. Unmittelbar vor Tharador verfestigte sich das Bildnis des Fremden wieder.
Tharador, Calissa und selbst Khalldeg wichen erschrocken zurück.
»Kein einfacher Zentaur«, erwiderte der Fremde mit seiner chorähnlichen Stimme.
»Wer seid Ihr?«, fragte Tharador ehrfürchtig.
»Er ist der Hüter der Quelle«, erklärte Faeron den anderen. »Er ist einer der Kanduri . Ein Gott.«
»Es ist schön zu sehen, dass Alirions Kinder nicht alles vergessen haben«, sagte der Zentaur gutmütig. »In eurer Sprache kennt man mich als den Ewigen«, stellte er sich schließlich vor.
Khalldeg schüttelte ungläubig den Kopf, während Tharador und Calissa demütig auf die Knie sanken.
»Ein Gott? Wie ist das möglich? Gordan sagte, die Götter seien beim Kampf gegen die Dämonen gefallen«, stieß Tharador hervor und bereute seine Zweifel im nächsten Moment. Wie konnte er in Frage stellen, was seine Augen sahen und sein Herz schon verstanden hatte? Die Kraft, die der Ewige ausstrahlte, war überwältigend. Er konnte kein gewöhnliches sterbliches Wesen sein.
»Wie könnte man töten, was über Leben und Tod wacht?«, fragte der Ewige.
Khalldeg hob den Finger, als wolle er antworten, dann jedoch legte er ihn stattdessen auf die geschürzten Lippen, als hätte er es sich anders überlegt.
Faeron trat einen Schritt vor und stellte sich dem Ewigen gegenüber. Der Körper des Gottes überragte Faerons hochgewachsene Gestalt um mehr als einen Fuß; lediglich Ul‘goth hätte vermocht, dem Ewigen ins Gesicht zu blicken. »Ihr habt uns gerufen, nun gebietet über uns.«
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte der Ewige. Faeron zog sich mit einem demütigen Kopfnicken wieder zurück. »Gordan ist ein weiser Mann, jedoch nicht allwissend. Wie du siehst, Paladin, bin ich äußerst lebendig. Aber es haben tatsächlich viele meiner Brüder ihre sterbliche Hülle im Kampf mit den Aureliten verloren.«
»Aure ... was?«, fragte Calissa vorlaut und biss sich sogleich auf die Lippe.
Der Ewige schenkte ihr ein Lächeln. »Die Kinder des Dämonenvaters Aurelion.«
Faeron riss erschrocken die Augen auf: »Aurelion? Aber war er nicht ...«
»Ganz recht, Faeron Tel‘imar. Aurelion. Der Göttervater«, vollendete der Ewige den Satz.
Khalldeg pfiff hörbar durch die Zähne. »Bei Grimmon!«
Tharador runzelte nachdenklich die Stirn.
»Ah, du möchtest wissen, welche Bewandtnis das augenblicklich hat, nicht wahr?«, fragte der Ewige freundlich, doch seine Ehrfurcht gebietende Stimme verunsicherte den Paladin erneut. Schließlich brachte Tharador ein zaghaftes Kopfnicken zustande. »Die Vergangenheit bestimmt unsere Gegenwart, Paladin. Der Zwist zwischen Aurelion und meinen Brüdern, seine Verbannung in die Niederhöllen, die Erschaffung der Dämonen – all das ist miteinander verknüpft. Es ist kein Zufall, dass die Goblins hier sind. Sie folgen lediglich Garpors Willen.«
»Wer ist Garpor?«, fragte Tharador.
»Garpor
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