Das Amulett
ungefähr zehn Fuß hoch – somit wäre es kein Problem, sie zu erklettern, nur wussten sie nicht, was sie dahinter erwartete.
»Wir sollten warten, bis es dunkel ist«, schlug Lantuk vor. »Bei Tageslicht werden sie uns zu schnell entdecken.«
»Vielleicht finden wir eine Stelle, an der nur wenige Wachen sind, dort könnten wir dann schnell eindringen, falls es das ist, was du willst, Kordal«, warf Daavir ein.
Kordal runzelte die Stirn. Er war sich nicht mehr sicher, was er eigentlich wollte. Ursprünglich wollten sie sich nur vergewissern, ob von den Goblins noch eine Bedrohung für die Flüchtlinge und Ma‘vol ausging. Der lange Schutzwall und die Größe des Lagers schienen ein klares Zeichen dafür, dass die Goblins früher oder später zurückkehren würden. Seine Neugier sollte also befriedigt sein, dachte der Krieger. Doch im nächsten Moment erkannte Kordal, dass sie erst dann wahrhaft befriedigt sein würde, wenn er das Lager auch von innen gesehen hätte.
»Ja«, antwortete er knapp. »Wir müssen es von innen sehen.«
»Dann heute Nacht«, schloss Daavir.
* * *
Ul‘goth presste die tellergroße Hand auf die schmerzende Stelle seines Brustkorbes. Hin und wieder hustete er etwas Blut. Die Schlange hatte ihm mehrere Rippen gebrochen, die sich nun langsam in seine Lunge bohrten. Er konnte es fühlen. Jeder Atemzug war eine Qual, als würde man ihm mit glühenden Messern in die rechte Seite der Brust stechen. Vor Erschöpfung konnte er kaum noch laufen und knickte alle paar Schritte um.
Doch er war stets wieder aufgestanden, hatte seinen Körper gezwungen, weiterzumachen. Aber trotz allem fühlte Ul‘goth sich großartig, freier denn je. Er konnte spüren, wie die Schuld seiner Taten von ihm wich. Der Ork trieb sich über körperliche Grenzen, nach denen es kein Zurück mehr gab, dennoch genoss er jeden Augenblick. Er reinigte seine Seele. Bald würde er seinen Ahnen gegenübertreten können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Er würde seine Verfehlungen ausmerzen.
Die Mittagssonne stand rechts am Himmel und drang hin und wieder durch das dichte Blätterdach des Waldes. Ul‘goth machte sich keine Gedanken mehr darüber, ob der Wald ihm eine bestimmte Richtung aufzwang, oder weshalb zu Beginn der kalten Jahreszeit noch grüne Blätter an den Ästen hingen.
Ein Geruch und dessen Bedeutung erfüllten seinen Verstand. Ul‘goth drang der unverwechselbare Gestank von Goblinbehausungen in die Nase. Sie mussten ganz in der Nähe ihr Lager haben.
Der Ork bewegte sich vorsichtiger, um nicht entdeckt zu werden. Erst im Schutz der Dunkelheit würde er in ihr Lager eindringen. Er würde Crezik suchen und töten – was danach geschah, war ihm gleichgültig.
Plötzlich erspähte er durch das dichte Gewirr aus Bäumen und Büschen eine durchgehende Wand aus aneinandergereihten, senkrechten Pfählen. Der Palisadenwall des Goblinlagers. Knapp zehn Fuß hoch ragten die angespitzten Pfähle aus dem Boden, dicht an dicht bildeten sie eine stabile Barriere gegen jeden Eindringling. Ul‘goth wagte sich nicht näher heran; die Wahrscheinlichkeit, dass ein Goblin zufällig durch eine Ritze schauen und ihn erspähen könnte, war zu groß.
Der Palisadenwall würde kein großes Hindernis für ihn darstellen, selbst mit seinen Verletzungen. Er wusste, dass sein Körper kurz vor dem unausweichlichen Kampf genug Kräfte freisetzen würde. Allerdings wäre er gegen den Nachthimmel deutlich sichtbar, während er sich über die Pfahlspitzen schwingen würde. Ul‘goth wog die Gefahren gegeneinander ab, doch durch einen der Eingänge – die es zweifellos gab – einzumarschieren, wäre zum Scheitern verurteilt. Er war alleine, Crezik hingegen mit mehreren Tausend Goblins losgezogen. Nein, er müsste für eine Ablenkung sorgen oder auf sein Glück hoffen. In jedem Fall würde er warten, bis es dunkel wäre.
* * *
Vorsichtig ertasteten ihre Finger den kleinen Anhänger, der unter ihrer Bluse versteckt hing. Deutlich zeichneten sich der runde Stein aus Obsidian und die ihn umgebende, fein gearbeitete Goldfassung ab. Sie konnte sich nicht wirklich erklären, weshalb sie das Amulett noch immer um den Hals trug. Immerhin war sie keine Diebin mehr und wollte nie wieder eine sein. Calissa saß allein an dem kleinen See, den Faeron ihnen als Quelle der Reinheit gezeigt hatte.
War dies ein Ort, an dem man von all seinen früheren Verfehlungen gereinigt werden konnte? Könnte sie hier ihr altes Leben hinter sich lassen und
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