Das Anastasia-Syndrom
signalisierte ihr, nicht nachzulassen. Sie mühte sich mit aller Kraft, die Augen zu öffnen.
Abermals spritzte ihr Patel etwas von der Flüssigkeit ein.
»Sie sind an der Höchstgrenze, Doktor. Sie will es sich nicht gestatten, hypnotisiert zu werden. Sie gewinnt den Kampf.«
»Geben Sie mir die Flasche mit dem Litencum«, befahl Patel.
»Doktor, ich glaube nicht…«
Patel hatte mit Hilfe dieser Droge bei schweren psychischen Störungen Blockierungen aufgehoben. Sie besaß die gleichen Eigenschaften wie die bei der Behandlung von Anna Anderson verwendete Substanz. In großer Menge verabreicht, würde sie nach Patels Überzeugung das Anastasia-Syndrom hervorrufen.
Rebecca Wadley, die Reza Patel als Genie verehrte und als Mann liebte, bekam es mit der Angst zu tun. »Tun Sie’s nicht, Reza«, flehte sie.
Judith hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Die Schläfrigkeit verging. Sie bewegte sich.
»Geben Sie mir die Flasche«, befahl Patel.
Rebecca holte sie, machte sie auf, während sie vom Labor ins Sprechzimmer zurückeilte, sah zu, wie Patel einen Tropfen aufzog und ihn Judith in die Vene injizierte.
Judith spürte, wie sie davonglitt. Der Raum verschwand. Es war dunkel und warm, und sie trieb wieder schwerelos dahin.
Rebecca ging zurück ins Labor und kontrollierte die Monitore. Judiths Herzschlag hatte sich abermals verlangsamt. Ihr Blutdruck fiel. »Sie ist weg.«
Der Arzt nickte. »Judith, ich stelle Ihnen jetzt ein paar Fragen.
Sie sind leicht zu beantworten. Sie werden dabei keinerlei Unbehagen oder Schmerz empfinden. Sie werden sich warm und wohl fühlen und so, als ob Sie dahintreiben. Wir beginnen mit dem heutigen Vormittag. Erzählen Sie mir von Ihrem neuen Buch. Haben Sie nicht dafür recherchiert?«
Sie war im Staatsarchiv, sprach mit dem stellvertretenden Leiter, berichtete Patel von der Restauration der Monarchie, von der Episode, die sie bei ihren ersten Recherchen entdeckt hatte und die sie faszinierte.
»Was war das für eine Episode, Judith?«
»Der König war bei der Enthauptung einer Frau zugegen.
Karl II. war ungewöhnlich barmherzig. Er verhielt sich Cromwells Witwe gegenüber großzügig, verzieh sogar Cromwells Sohn, der Lordprotektor geworden war. In England sei genug Blut vergossen worden, erklärte er. Er war lediglich bei den Hinrichtungen der Männer anwesend, die das Todesurteil für seinen Vater unterzeichnet hatten. Wieso war er dann derart wü-
tend auf eine Frau, daß er sich entschloß, ihrer Hinrichtung bei-zuwohnen?«
»Das fasziniert Sie?«
»Ja.«
»Und nach dem Staatsarchiv?«
»Ging ich nach Covent Garden.«
Rebecca Wadley hörte aufmerksam zu, als Dr. Patel begann, Judith zeitlich zurückzuversetzen – von ihrem Hochzeitstag mit Kenneth zu ihrem sechzehnten, dann ihrem fünften Geburtstag, vom Waisenhaus zu ihrer Adoption.
Judith war keine Durchschnittsfrau, das wurde Rebecca beim Zuhören bewußt. Die Klarheit ihrer Erinnerungen war verblüffend, selbst als sie immer weiter in die Kindheit zurückging.
Rebecca hatte den Ablauf schon unzählige Male verfolgt und war stets von neuem zutiefst beeindruckt, wenn sie miterlebte, wie sich das Innere öffnete und seine Geheimnisse enthüllte, wenn sie einen selbstbewußten, differenzierten Erwachsenen sich undeutlich lallend wie ein Kleinkind artikulieren hörte.
»Judith, bevor Sie in das Waisenhaus gebracht wurden, bevor man Sie in Salisbury fand – erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern.«
Unruhig warf Judith den Kopf hin und her. »Nein. Nein.«
Der Monitor zeigte an, daß Judiths Herzschlag sich beschleu-nigte. »Sie versucht, abzublocken«, teilte Rebecca rasch mit.
Dann sah sie zu ihrem Schrecken, daß Patel abermals etwas Flüssigkeit aus der Flasche aufzog. »Tun Sie’s nicht, Doktor!«
»Sie ist ganz dicht dran. Ich darf jetzt nicht aufhören.«
Rebecca starrte auf den Bildschirm. Judiths Körper befand sich in einem völlig entspannten Zustand. Die Pulsfrequenz lag unter vierzig, der Blutdruck bei siebzig zu fünfzig. Gefährlich, dachte Rebecca, viel zu riskant. Sie wußte, daß in Patel ein Fa-natiker steckte, hatte ihn aber noch nie so leichtfertig handeln gesehen.
»Erzähl mir, was dir Angst gemacht hat, Judith. Versuch’s.«
Judiths Atem ging flach und stoßweise. Sie bildete jetzt keine vollständigen Sätze mehr und sprach mit der leisen, aber hohen Stimme eines Kleinkindes. Sie wollten mit dem Zug fahren. Sie hielt Mamis Hand. Sie begann zu schreien, das
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