Das Anastasia-Syndrom
sie als Nachfolger für den Parteivorsitz favorisierte.
Stephen wußte, daß die Wahl unvermeidlich auf ihn gefallen wäre, wenn es nicht diesen einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit gegeben hätte. Wie lange würde dieser gräßliche Skandal vor nunmehr dreißig Jahren ihn noch verfolgen? Hatte er ihm auch jetzt die Chancen verdorben? War die Premierministerin so großzügig, ihm persönlich mitzuteilen, daß sie ihn nicht unterstützen könne, oder beabsichtigte sie, ihm ihren Beistand anzukündigen?
Rory, sein langjähriger Fahrer, und Carpenter, sein Leibwächter von Scotland Yard Special Branch, beides hochintelligente Männer, waren sich über die Bedeutung dieser Zusammenkunft im klaren, das spürte er genau. Als sie vor dem stattlichen Ge-bäude hielten, stieg Carpenter aus und salutierte, während Rory ihm die Wagentür aufriß.
Die Premierministerin war in der Bibliothek. Warmer Sonnenschein durchflutete den hübschen Raum, dennoch trug sie eine dicke Strickjacke, und auch ihre vitale Energie schien irgendwie abhanden gekommen zu sein. Als sie ihn begrüßte, klang selbst ihre Stimme nicht so kraftvoll wie sonst.
»Es ist nicht gut, wenn man die Kampfeslust verliert, Stephen.
Ich habe gerade mit meiner Psyche gehadert, weil sie mich so schmählich im Stich läßt.«
»Verständlich, Premier…« Stephen stockte. Er würde sie nicht mit hohlen Phrasen beleidigen. Die Medien ergingen sich seit Monaten in Spekulationen über ihre offensichtliche Erschöpfung.
Die Premierministerin bedeutete ihm, Platz zu nehmen. »Ich habe eine sehr schwierige Entscheidung getroffen. Ich werde mich ins Privatleben zurückziehen. Zehn Jahre in diesem Amt sind für jeden genug. Außerdem möchte ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen. Das Land ist zu Wahlen bereit, und den Wahlkampf muß ein neu gekürter Parteiführer leiten. Ich glaube, Stephen, Sie sind der ideale Nachfolger für mich. Sie haben alles, was man dazu braucht.«
Stephen wartete auf das nächste Wort – nach seinem Dafürhalten ein Aber. Er irrte sich.
»Ohne Zweifel wird die Presse den alten Skandal wieder aufwärmen. Ich selber habe ihn nochmals untersuchen lassen.«
Der alte Skandal.
Mit fünfundzwanzig hatte Stephen als Anwalt in der Kanzlei seines Schwiegervaters gearbeitet. Ein Jahr darauf wurde Regi-nald Harworth, sein Schwiegervater, der Veruntreuung überführt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
»Sie wurden in vollem Umfang entlastet«, setzte die Premierministerin hinzu, »aber Affären dieser Art werden eben immer wieder hervorgezerrt. Ich bin jedoch nicht der Meinung, daß man wegen Ihres unglückseligen Schwiegervaters dem Land Ihre Fähigkeiten und Dienste vorenthalten sollte.«
Stephen spürte die Anspannung am ganzen Körper. Die Premierministerin war im Begriff, sich hinter ihn zu stellen.
Ihr Gesicht wurde hart. »Ich verlange eine ehrliche Antwort.
Gibt es irgend etwas in Ihrem Privatleben, das die Partei in Verlegenheit bringen, das uns die Wahl kosten könnte?«
»Nichts.«
»Keine von diesen Nutten, die es darauf anlegen, ihre Lebensgeschichte an die Presse zu verkaufen? Sie sind ein attraktiver Mann und verwitwet.«
»Ich stoße mich an der stillschweigenden Folgerung.«
»Kein Grund. Ich muß das wissen. Judith Chase. Sie haben uns gestern abend miteinander bekanntgemacht. Ich bin mit ihrem Vater, das heißt mit ihrem Adoptivvater, im Laufe der Jahre mehrmals zusammengekommen. Sie scheint ohne Fehl und Tadel zu sein.«
Cäsars Frau muß ohne Fehl sein , dachte Stephen. Waren das nicht Judiths Worte vom Vorabend?
»Ich hoffe und erwarte, Judith zu heiraten. Wir sind uns dar-
über einig, daß wir derzeit keinerlei Wert auf irgendwelche Pub-licity legen.«
»Sehr vernünftig. Nun zählen Sie Ihre Pluspunkte zusammen.
Die Adoptiveltern gehörten zur Oberschicht, und sie bringt als britische Kriegswaise einen Schuß Romantik mit. Sie ist eine von uns.« Die Premierministerin lächelte warm und herzlich.
»Gratuliere, Stephen. Labour wird uns schwer zu schaffen machen, aber wir werden gewinnen. Sie werden der nächste Premierminister, und niemand wird sich mehr freuen als ich, wenn Sie sich der Königin vorstellen. Und jetzt seien Sie so nett und schenken uns beiden einen ordentlichen Scotch ein. Wir müssen sorgfältig planen.«
Judith fuhr von Patels Praxis direkt nach Hause. Im Taxi merkte sie, wie sie immer wieder flüsterte: »Sarah Marsh, Sarah Marrish.« Mein richtiger Name gefällt mir
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