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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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aufgesteckten Haar ringelten sich ein paar widerspenstige Strähnen um ihr aschfahles Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen.

    Sie folgte der Karte bei ihrem Rundgang durch die Stadt, blieb zwischendurch stehen, um ihre eigenen Notizen zu konsul-tieren und Eindrücke festzuhalten. Beim Blick vom Turm der Kathedrale erinnerte sie sich, daß Karl II. von derselben Stelle aus Cromwells Vorbereitungen für die Schlacht beobachtet hatte. Und als sich die Niederlage eindeutig abzeichnete, hatten sich die royalistischen Truppen, den sicheren Tod vor Augen, zum letzten verzweifelten Angriff dem Parlamentsheer entge-gengeworfen, um ihrem zukünftigen Herrscher bei seiner Flucht Deckung zu geben. Von hier aus hatte Karl den langen, qualvol-len Weg durch England angetreten, um in Frankreich Asyl zu suchen.
    Ein Jammer, daß er entkommen ist, dachte sie verbittert, als die Narbe an der Hand sich zu verfärben begann. Sie sah die winterliche Landschaft um Worcester nicht mehr, sondern fuhr an einem warmen Juliabend des Jahres 1644 in einer Kutsche nach Marston Moor mit der Hoffnung, Vincent noch am Leben zu finden…

    Trommelwirbel begleitete ein kleines Kommando der Round-head-Truppen. Beim Anblick der herannahenden Kutsche traten zwei Wachen heraus, sperrten mit langen Stangen den Weg ab.
    Lady Margaret entstieg der Kutsche. Sie trug ein dunkelblau-es Tageskleid aus feinem Leinen und von einfachem Schnitt mit weißem Rüschenkragen, dazu ein passendes Schultercape. Au-
    ßer dem Ehering hatte sie keinerlei Schmuck angelegt. Ihr dichtes kastanienbraunes, jetzt von Silberfäden durchzogenes Haar war im Nacken zusammengebunden. Die blaugrünen Augen, ein Erbe der Adelsfamilie Russell, wurden vom Schmerz verdunkelt.
    »Bitte«, flehte sie. »Ich weiß, daß viele Verwundete unver-sorgt daliegen. Mein Sohn hat hier gekämpft.«
    »Auf welcher Seite?« fragte der Soldat höhnisch grinsend.
    »Er ist Offizier in Cromwells Heer.«

    »Eurem Aussehen nach hätte ich ihn bei den Kavalieren vermutet. Bedaure, Madam, es suchen schon zu viele Frauen auf diesen Feldern. Wir haben Befehl, keine mehr durchzulassen.
    Um die Leichen kümmern wir uns.«
    »Bitte«, flehte Margaret. »Bitte.«
    Ein Offizier kam heran. »Wie ist der Name Eures Sohnes, Madam?«
    »Captain Vincent Carew.«
    Der Lieutenant, ein Mittdreißiger mit offenem Gesicht, blickte ernst. »Ich kenne Captain Carew. Seit Ende der Schlacht habe ich ihn nicht gesehen. Er hat an der Attacke gegen das Longdale Regiment teilgenommen. Das war in dem feuchten Gelände zur Rechten. Vielleicht solltet Ihr Eure Suche dort beginnen.«
    Die Felder waren übersät mit Toten und Sterbenden, dazwischen Frauen jeden Alters, auf der Suche nach ihren Gatten und Brüdern, Vätern und Söhnen. Zertrümmerte Waffen und Pferde-kadaver zeugten von der Heftigkeit der Kämpfe. Insekten-schwärme umschwirrten die Gefallenen. Da und dort ertönte ein verzweifelter Aufschrei, wurde ein Angehöriger mit lautem Weinen betrauert.
    Margaret nahm die Suche auf. Viele Soldaten lagen mit dem Gesicht auf der Erde, doch sie brauchte sie nicht umzudrehen.
    Sie hielt Ausschau nach kastanienbraunem Haar, das nicht kurzgeschoren war wie bei Cromwells ›Rundköpfen‹, sondern sich dicht um ein jungenhaftes Gesicht lockte.
    Vor ihr sank eine junge Frau von etwa neunzehn auf die Knie und umschlang einen Gefallenen in Kavaliersuniform. Wehkla-gend wiegte sie ihn in den Armen. »Edward, mein Gemahl.«
    Margaret legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. Und dann sah sie es. Der Tote hielt sein Schwert noch umklammert, an dem Tuchfetzen hingen. Unweit davon lag ein junger Offizier der Cromwell-Armee auf der Erde, die Brust aufgeschlitzt. Margaret erbleichte, denn sie wußte instinktiv, daß die Stoffasern seines Waffenrocks mit den am Schwert hängenden überein-stimmten. Der kastanienbraune Haarschopf, die hübschen, aristokratischen Züge, die denen seines Vaters so sehr glichen. Die blaugrünen Augen der Russells, die blicklos zu ihr empor starr-ten.
    »Vincent, Vincent.« Sie kniete sich neben ihn, wiegte seinen Kopf an ihrer Brust, der Brust, die ihn vor zwanzig Jahren ge-säugt hatte. »… Dann werde ich auf der Seite des Parlaments kämpfen.« – »Gott gebe, daß alles abgetan ist, bis du das notwendige Alter erreicht hast. Selbst Karl muß wissen, daß er diesen Gewissenskampf unmöglich gewinnen kann.«
    Die junge Frau, deren Mannes Schwert Vincent getötet hatte, begann zu schreien. »Nein… nein…

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