Das Anastasia-Syndrom
dem verstorbenen Mr. Colman. Was machst du heute abend?«
»Ich richte mir irgendwas zu essen her und setze mich an die Schreibmaschine. Außendienst muß sein, aber damit ist noch nichts am Manuskript getan.«
»Sieh zu, daß du es abschließt. Die Wahl findet am 13. März statt, Judith. Wäre dir eine stille Hochzeit im April recht, am liebsten in Edge Barton? Dort fühle ich mich wirklich zu Hause, mehr als irgendwo sonst. Seit meiner Geburt war es für mich gleichbedeutend mit Zuflucht, Trost und Frieden. Und ich spüre, daß du ähnlich darauf reagiert hast.«
»Das ist mir bewußt.«
Als Judith den Hörer auflegte, hatte sie den sehnlichen Wunsch, sich ein einfaches Abendbrot zurechtzumachen, ins Bett zu gehen und noch eine Weile zu lesen. Doch sie hatte einen kostbaren Tag mit dem Einkauf bei Harrods und dem Standesamt vertrödelt.
Sie beschloß, sich nicht zu verweichlichen, duschte, zog einen warmen Pyjama an, darüber den Morgenrock, wärmte sich eine Dosensuppe und ging zurück an den Schreibtisch. Zufrieden überflog sie das Manuskript: Im ersten Drittel befaßte sie sich mit den Ereignissen, die schließlich im Bürgerkrieg gipfelten; der Mittelteil behandelte das Leben in England während des Krieges, das Auf und Ab im Kampf geschehen, die verpaßten Chancen für eine Versöhnung zwischen König und Parlament und Gefangennahme, Prozeß und Hinrichtung von Karl I.
Jetzt war sie bereits bei der Rückkehr von Karl II. aus dem französischen Exil, seinem Versprechen, Religionsfreiheit zu gewähren, dem Prozeß gegen die Männer, die den Hinrichtungsbefehl für seinen Vater unterzeichnet hatten.
Karl kehrte am 29. Mai 1660, seinem dreißigsten Geburtstag, nach England zurück. Judith nahm den Füller, um ihrer Notizen über die zahlreichen Petitionen zu unterstreichen, mit denen ihn Royalisten wegen Titeln und von den Cromwell-Anhängern beschlagnahmten Besitzungen bestürmten.
Ihr Kopf hämmerte. Die Narbe an ihrer rechten Hand begann sich feuerrot zu färben. »Oh, Vincent«, flüsterte sie. Es war der 24. September 1660…
In den sechzehn Jahren seit Vincents Tod hatten Lady Margaret und Sir John zurückgezogen in Edge Barton gelebt. Nur in der Hinrichtung des Königs und der Niederlage der royalistischen Truppen fand Lady Margaret etwas Trost. Zumindest hatte die Sache gesiegt, für die ihr Sohn gefallen war. Doch in jenen Jahren war es auch zu einer Entfremdung zwischen ihr und John gekommen. Nur auf ihr hartnäckiges Drängen hin hatte er widerstrebend den Hinrichtungsbefehl für den König unterzeichnet und sich das nie verziehen.
»Verbannung hätte vollauf genügt«, stellte er immer wieder bekümmert fest. »Und was haben wir statt dessen bekommen?
Einen Lordprotektor, der sich wie ein König gebärdet und mit seinem Puritanertum England die Religionsfreiheit und uns alle Freuden, die wir einst kannten, genommen hat.«
Sie liebte ihren Gatten fast ebensosehr, wie sie den hingerichteten König haßte, und mußte nun zusehen, wie John zum vergeßlichen alten Mann verfiel; sie wußte, daß er ihr nicht verzei-hen konnte, auf ihr Drängen zum Königsmörder geworden zu sein. All dies und der tägliche Gram, die Sehnsucht nach ihrem toten Sohn hatten Margaret verändert, sie verbittert gemacht.
Ihr ungezügeltes Temperament wurde legendär, und der Spiegel zeigte ihr, daß sie keinerlei Ähnlichkeit mehr besaß mit der schönen Tochter des Herzogs von Wakefield, die man bei Hof mit Trinksprüchen gefeiert hatte, als sie Sir John Carew ehelich-te. Nur wenn sie mit John zusammensaß und ihn mehr und mehr von der Vergangenheit reden hörte, vermochte sie sich zu erinnern, wie glücklich ihr Leben einst gewesen war.
Karl II. war im Mai nach England zurückgekehrt. Es sei genug Blut vergossen worden, erklärte er und verkündete eine allgemeine Amnestie, die Männer ausgenommen, die direkt in den Mord an seinem Vater verwickelt waren. Von den einund-fünfzig Unterzeichnern des Hinrichtungsbefehls lebten noch neunundvierzig. Karl versprach denjenigen, die sich freiwillig stellten, besondere Berücksichtigung ihres Falles.
Margaret traute dem König nicht. Es war deutlich erkennbar, daß John nur noch wenig Zeit blieb. Die Anzeichen von geistiger Verwirrung mehrten sich. Oft rief er nach Vincent, der mit ihm ausreiten sollte. Er schaute Margaret wieder mit dem Ausdruck tiefer Liebe an, die er ihr in so vielen Jahren bezeigt hatte. Er sprach von seiner Absicht, bei Hof zu erscheinen und den
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