Das Anastasia-Syndrom
drohen.
Doch wie mein Vater bemerkte – wenn ein Mann nichts zu ver-steuern hat, ist es leicht, einem Herrscher Treue zu geloben, der an das Gottesgnadentum glaubt. Setzt Euresgleichen denn nicht in der Tat seine Hoffnungen darauf, Mr. Hallett, daß die von der Krone wegen nichtbezahlten Steuern konfiszierten Besitzungen eines Tages den Verteidigern des Königs verliehen werden? Euch selbst? Mein Vater hat sehr wohl wahrgenom-men, wie begierig Ihr dreinschaut, wenn Ihr Eure Freunde nach Edge Barton Manor begleitet. Dann übt also dieses Haus große Anziehungskraft auf Euch aus, was sich auch in Eurem offensichtlichen Interesse für meine Mutter kundtut?«
Hallett stieg Zornesröte ins Gesicht. »Ihr seid unverschämt.«
Lady Margaret lachte und nahm den Arm ihres Sohnes.
»Nein, er ist ein sehr gescheiter junger Mann. Er hat Euch genau das zu verstehen gegeben, was ich ihn zu übermitteln bat. Ihr habt ganz recht, Mr. Hallett. Sir John, mein Gatte, fühlt sich nicht wohl, und daher möchte ich ihn auch nicht be-drängen, mit Euch zu sprechen. Betretet dieses Haus nicht wieder unter dem Vorwand, gemeinsame Freunde zu begleiten. Ihr seid hier unwillkommen. Und wenn Ihr dem König wirklich so nahesteht, wie Ihr uns glauben macht, dann teilt Seiner Majestät mit, weshalb viele von uns seinen Hof meiden: weil wir seine Verachtung des Parlaments nicht ertragen können, seinen Anspruch auf Gottesgnadentum, seine Gleichgültigkeit gegenüber den wahren Bedürfnissen und Rechten seines Volkes. Meine Familie hat seit Gründung des Parlaments sowohl im Unterhaus wie im Oberhaus Dienst geleistet. In unseren Adern fließt das Blut der Tudors, doch das bedeutet nicht, daß wir zu den Zeiten zurückkehren werden, da dem Herrscher allein sein eigener Wunsch und Wille als Recht galt.«
Musik ertönte. Margaret kehrte Hallett den Rücken, lächelte ihrem Mann zu, der, den Stock neben sich, mit Freunden zusammensaß, und ging mit ihrem Sohn zur Tanzfläche.
»Du hast die Grazie deines Vaters«, sagte sie. »Vor seinem Unfall pflegte ich ihn den besten Tänzer in England zu nennen.«
Vincent erwiderte ihr Lächeln nicht. »Was wird geschehen, Mutter?«
»Wenn der König die Reformen, die das Parlament fordert, nicht bewilligt, gibt es Bürgerkrieg.«
»Dann werde ich auf der Seite des Parlaments kämpfen.«
»Gott gebe, daß alles abgetan ist, bis du das notwendige Alter erreicht hast. Selbst Karl muß wissen, daß er diesen Gewissenskampf unmöglich gewinnen kann.«
Judith öffnete die Augen. Stephen rief sie. Kopfschüttelnd lief sie zur Treppe. »Hier oben, Darling.« Als er bei ihr war, legte sie ihm die Arme um den Hals. »Mir kommt’s so vor, als ob ich Edge Barton schon immer gekannt habe.« Sie merkte nicht, daß die Narbe an ihrer Hand, die sich scharlachrot verfärbt hatte, abermals zu einem nahezu unkenntlichen Strich verblaßt war.
***
Am Montag fuhr Judith nach Worcester, wo 1651 die letzte gro-
ße Auseinandersetzung des Bürgerkriegs stattgefunden hatte. Sie ging zuerst zur Kommandantur, dem Holzbau, der Karl II. als Hauptquartier gedient hatte. Von Grund auf restauriert, waren dort jetzt Uniformen, Helme und Musketen zu sehen – An-schauungsmaterial, das die Besucher zur Hand nehmen und studieren durften. Als sie eine Captain-Uniform der Cromwell-Armee näher betrachtete, empfand sie herzzerreißende Traurig-keit. In einer audiovisuellen Darstellung wurde die historische Auseinandersetzung mitsamt den Ereignissen, die dazu geführt hatten, dokumentiert. Mit brennenden Augen verfolgte sie die überaus realistische Aufzeichnung, merkte nicht, daß sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Ein Aufseher gab ihr eine Karte, die den Ablauf der Schlacht von Worcester übersichtlich dar-stellte, und erklärte: »Die Royalisten hatten in der Schlacht von Naseby eine schwere Niederlage erlitten. An jenem Tag war der Krieg praktisch zu Ende, von Cromwell und seinem Parlamentsheer gewonnen. Doch er zog sich immer noch weiter hin. Die letzte große bewaffnete Auseinandersetzung fand hier statt. Die Royalisten wurden von dem erst einundzwanzigjährigen Karl angeführt, dem die Historiker ›beispiellose Tapferkeit‹ beschei-nigen, aber das nützte nichts. Sie hatten bei Naseby fünfhundert Offiziere verloren und sich davon nie mehr erholt.«
Judith verließ die Kommandantur. Es war ein typischer naß-
kalter Januartag. Sie hatte einen Burberry an und den Kragen hochgeschlagen. Aus dem zum Nackenknoten
Weitere Kostenlose Bücher