Das Anastasia-Syndrom
möglich, daß die Eintragung erst im nächsten Quartal oder noch spä-
ter vorgenommen wurde.«
Judith kehrte zu ihrem Platz zurück und begann unter Marrish und Marsh nach Vornamen mit dem Anfangsbuchstaben S zu suchen. Vielleicht war Sarah aber auch mein zweiter Vorname, dachte sie. Mit dem pflegt man ja Kinder zu rufen, die nach der Mutter genannt sind. Doch es fand sich keine entsprechende Eintragung. In jeder Rubrik war der Familienname aufgeführt, dann der Vorname des Neugeborenen, der Mädchenname der Mutter und der Bezirk, in dem das Kind zur Welt gekommen war. Mit diesen Angaben waren noch der Band und die Seiten-zahl des Registers aufgeführt, die zur Ausfertigung von Kopien der Geburtsurkunde benötigt wurden. Ohne den richtigen Namen lande ich also in einer Sackgasse, dachte sie.
Sie verließ das Amt erst bei Dienstschluß. Das stundenlange Hocken über den Büchern hatte ihr Muskelkater in den Schultern, Augenbrennen und Kopfschmerzen eingebracht. Leicht würde sie jedenfalls nicht ans Ziel gelangen. Wenn sie doch nur Stephens Unterstützung gewinnen könnte. Durch seine Interven-tion ließe sich vermutlich sachkundige Hilfe finden. Vielleicht gab es Methoden, in den Registern nachzuforschen, von denen sie keine Ahnung hatte… Und vielleicht war diese Sarah Marrish oder Marsh auch nur ein Produkt ihrer Phantasie, ein Streich, den ihr das Unterbewußtsein gespielt hatte.
Auf dem Anrufbeantworter befand sich eine Nachricht von Stephen. Beim Klang seiner Stimme wurden ihre Lebensgeister wieder wach. Rasch wählte sie die Nummer seines Direktan-schlusses im Ministerium. »Machst du wieder mal Nacht-schicht?« erkundigte sie sich, als sie zu ihm durchgestellt wurde.
Er lachte. »Das gleiche könnte ich dich fragen. Wie war’s in Worcester? Beeindruckt von unserem Mangel an Bruderliebe?«
Sie hatte angedeutet, daß sie diesen Tag nochmals in Worcester verbringen würde. Von der Suche nach ihren leiblichen Angehörigen wollte sie ihm keinesfalls erzählen.
Nach kurzem Zögern sprudelte sie heraus: »Mit den Recherchen war’s heute ein bißchen lahm, aber das gehört auch dazu.
Hast du das Wochenende ebenso genossen wie ich, Stephen?«
»Ich habe dauernd daran gedacht. Für mich im Moment ein wahrer Lichtblick…«
Sie waren am Samstag und am Sonntag in Edge Barton ausge-ritten. Stephen hatte sechs Pferde im Stall. Marker, sein kohl-schwarzer Wallach, und Jumper, eine Stute, waren seine Lieb-linge, beides Springer. Stephen war ganz begeistert, daß Judith das Tempo mithielt, als sie durch das Gelände galoppierten und mühelos über die Zäune setzten.
»Du hast mir doch erzählt, daß du ein bißchen reiten kannst«, sagte er vorwurfsvoll.
»Früher bin ich viel geritten. In den letzten zehn Jahren hatte ich kaum noch Zeit dafür.«
»Das merkt man überhaupt nicht. Als mir einfiel, daß ich dich nicht auf den Bach aufmerksam gemacht habe, bekam ich einen Mordsschreck. Die Pferde scheuen, wenn der Reiter da nicht aufpaßt.«
»Irgendwie hab ich damit gerechnet«, hatte sie geantwortet.
Nach dem Absteigen waren sie Arm in Arm vom Stall zu-rückgeschlendert. Außer Sichtweite der Stallburschen hatte Stephen sie in die Arme geschlossen.
»Jetzt ist es definitiv, Judith. In drei Wochen wird die Premierministerin ihren Rücktritt erklären, und dann kommt es zur Wahl des neuen Parteivorsitzenden.«
»Und das wirst du sein.«
»Ich habe ihre Unterstützung. Um den Posten reißen sich auch noch andere, doch es dürfte wohl klappen. In den paar Wochen bis zu den Wahlen wird es dann reichlich hektisch zugehen. Wir werden sehr wenig Zeit für uns haben. Kannst du das akzeptie-ren?«
»Selbstverständlich. Und sollte ich das Buch abschließen können, während du dich im Wahlkampf tummelst, um so besser. Nebenbei bemerkt, Sir Stephen, ich bin entzückt, dich im Reitdress zu sehen und nicht im Straßen- oder Abendanzug, so erinnerst du mich ein bißchen an Ronald Colman. Ich habe mir nachts leidenschaftlich gern alte Filme angeschaut, und er war mein erklärter Liebling. Allmählich komme ich mir vor wie das Liebespaar in Random House . Smithy und Paula waren ja ungefähr in unserem Alter, als sie sich wiederfanden.«
»Judith!« Stephens Stimme schien weit entfernt. »Entschuldige, Stephen. Ich habe gerade an dich und an das Wochenende gedacht und überlegt, ob du jetzt wohl aussiehst wie Ronald Colman.«
»Ich muß dich leider enttäuschen, Darling, aber der Vergleich ist unfair gegenüber
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