Das Anastasia-Syndrom
nein…«
Margaret starrte sie an. Sie ist jung, dachte sie. Sie findet wieder einen Gatten. Ich werde nie wieder einen Sohn haben.
Mit unendlicher Zärtlichkeit küßte sie Vincent auf den Mund und auf die Stirn und bettete ihn auf den sumpfigen Boden. Der Kutscher würde ihr helfen, den Toten zum Wagen zu tragen. Einen Augenblick verharrte sie bei der schluchzenden jungen Frau.
»Ein Jammer, daß sich das Schwert Eures Gatten nicht in des Königs Herz gesenkt hat«, sagte sie. »Wäre es mein gewesen, so hätte es da sein Ziel gefunden.«
Judith erschauerte. Die Sonne war weg, und der Wind blies stärker. Sie bemerkte, daß eine Gruppe Touristen in der Nähe stand.
Einer bemühte sich, die Aufmerksamkeit des Fremdenführers auf sich zu lenken. »In welchem Jahr wurde Karl I. hingerichtet?«
»Er wurde am 30. Januar 1649 enthauptet«, sagte Judith.
»Viereinhalb Jahre nach der Schlacht von Marston Moor.« Sie lächelte. »Entschuldigung. Ich wollte mich nicht einmischen.«
Sie hastete die Treppe hinunter, wollte auf schnellstem Wege von hier weg, dann zu Hause ein Feuer im Kamin anzünden, einen Sherry trinken. Merkwürdig, dachte sie auf der Fahrt durch den immer dichter werdenden Verkehr, als ich mit dem Buch anfing, hatte ich wesentlich mehr Sympathien für die Royalisten. Ich fand die Stuards, bis zurück zu Maria, entweder sehr dumm oder sehr verschlagen und in Karl I. beides vereint, aber trotzdem hätte man ihn nicht hinrichten dürfen. Je intensi-ver ich recherchierte, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß die Parlamentsmitglieder, die den Hinrichtungsbefehl unterzeichnet haben, im Recht waren und daß ich mich ihnen gege-benenfalls angeschlossen hätte…
Tags darauf ging Judith herzklopfend über die flache Stufe zur Drehtür des Zentralen Standesamtes, St. Catherine’s House, Kingsway . Laß dies die richtige Stelle sein, betete sie im stillen; dabei erinnerte sie sich an die Erzählungen ihrer Adoptiveltern, wie die Behörden in Salisbury sämtliche Geburtenregister überprüft und ihr Foto in den umliegenden Gemeinden ausgehängt hatten, um ihre Angehörigen ausfindig zu machen. Aber wenn sie nun in London geboren und zufällig in den Zug geraten war… Laß es stimmen, dachte sie. Laß es wahr sein.
Sie hatte den Besuch hier bereits für den Vortag geplant, aber dann festgestellt, daß da in ihrem Terminkalender die Fahrt nach Worcester eingetragen war, worauf sie sofort beschloß, sich an ihre ursprüngliche Planung zu halten. Lag es daran, daß sie be-fürchtete, in eine Sackgasse zu geraten, daß die Erinnerung an die in Bahnhofsnähe gefallenen Bomben, an die Namen Sarah und Molly Marsh oder Merrish nur ein während der Hypnose entstandenes Zufallsprodukt sein könnte?
Am Auskunftsschalter reihte sie sich in eine unvermutet lange Warteschlange ein. Aus Gesprächsfetzen schloß sie, daß die meisten Familienforschung betrieben. Als sie endlich dran war, teilte ihr der Beamte mit, daß die Geburtenregister in der ersten Abteilung archiviert seien, in dicken, entsprechend beschrifteten Jahresbänden.
»Jedes Jahr ist in vier Quartale unterteilt, und die Bände sind März, Juni, September, Dezember markiert«, wurde sie informiert. »Welches Datum brauchen Sie?… 4. oder 14. Mai? Dann müssen Sie im Juni-Band nachschlagen. Der enthält die Register für April, Mai und Juni.«
In dem Raum herrschte rege Betriebsamkeit. Einen Sitzplatz gab es nur an einem der langen, bankartigen Tische. Judith zog das jägergrüne Cape mit Kapuze aus, das sie sich morgens spontan bei Harrods gekauft hatte. »Bildschön, finden Sie nicht?«
hatte die Verkäuferin gesagt. »Und genau richtig bei diesem komischen Wetter. Nicht zu schwer, aber mit einem Pullover darunter mollig warm.«
Sie trug einen grobmaschigen, handgestrickten Pulli, Stretch-hosen und Stiefel, ihr Lieblingsaufzug. Die bewundernden Blik-ke, die ihr folgten, bemerkte sie nicht und nahm sich den Band mit der Aufschrift Juni 1942 vor.
Unter den Familiennamen Marrish oder Marsh fand sie zu ihrer Bestürzung keinerlei Eintragung, die auf Sarah oder Molly lautete. War alles, was sie unter Hypnose gesagt hatte, lediglich ein Hirngespinst? Sie stellte sich wieder in der Schlange an und landete nach einer Weile vor dem Auskunftsschalter.
»Muß die Registrierung nicht binnen eines Monats nach der Geburt des Kindes erfolgen?«
»Ganz recht.«
»Dann habe ich den richtigen Band.«
»Nicht unbedingt. 1942 war ein Kriegsjahr. Durchaus
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