Das Anastasia-Syndrom
auf seiner Darstellung, Margaret Carew habe ihm gesagt, sie brauche es zur Sprengung eines alten Gemäuers auf ihrem Grundstück in Devonshire. Watkins wurde auf Herz und Nieren überprüft.
Scotland Yard kam zu dem Schluß, daß er haargenau das war, was er zu sein schien: ein Arbeiter, der sich als Weiberheld auf-spielte, an Politik völlig uninteressiert war und dessen Bruder sich aus einem Steinbruch alles verschaffen konnte, was er brauchte. Für den neu eingebauten Kamin im Einfamilienhaus seiner Eltern in Wales waren Marmorplatten verwendet worden, die eindeutig vom letzten Arbeitsplatz des Bruders stammten.
Zögernd pflichtete Deputy Assistant Commissioner Philip Barnes seinem Mitarbeiter, Commander Jack Sloane, bei, daß Watkins von der dunkelhaarigen Frau als Werkzeug benutzt worden war. Seine wiederholte Beteuerung, die Frau, die sich Margaret Carew nannte, habe an der rechten Daumenwurzel eine grellrote Narbe gehabt, war der einzige Hinweis, an den sie etwas Hoffnung knüpfen konnten.
Diese Information gelangte nicht in die Medien. Watkins wurde wegen Entgegennahme und Weitergabe von Diebesgut angeklagt und in Untersuchungshaft behalten, weil er die Kaution nicht stellen konnte. Ob man ihn der Beihilfe zu einem Ter-roranschlag anklagen würde, hing von seiner künftigen Koope-rationsbereitschaft ab.
Jeder Polizist in England erhielt eine Vergrößerung des Fotos von der Frau mit Cape und dunkler Brille und den zusätzlichen Hinweis, es handle sich um eine dunkelhaarige Vierzigerin mit einer Narbe an der Hand.
Je näher der Wahltermin rückte, desto geringer wurde das Interesse der Öffentlichkeit an dem Sprengstoffanschlag auf das Denkmal. Schließlich war dabei niemand schwer verletzt worden. Keine Gruppe hatte die Verantwortung übernommen. In den Fernsehprogrammen kam schwarzer Humor auf. »Armer alter Karl. Als ob es nicht genügt, ihm den Kopf abzuschlagen, will man ihn dreihundert Jahre später auch noch in die Luft jagen. Jetzt braucht er eine Galgenfrist.«
Am 5. März gab es im Tower in dem Raum, in dem die Kronjuwelen ausgestellt waren, eine Explosion. Dabei wurden 43
Personen verletzt, sechs schwer, und ein Aufseher und ein amerikanischer Tourist in vorgerücktem Alter getötet.
Am Morgen des 5. März stellte Judith fest, daß sie mit ihrer Beschreibung vom Tower unzufrieden war. Ihrer Meinung nach war es ihr nicht gelungen, jene Atmosphäre zu vermitteln, in der die Königsmörder und ihre Komplizen hier dem Ende entgegen-gebangt hatten. Sie wußte, daß ein Besuch des geschilderten Schauplatzes ihr häufig half, die jeweilige Stimmung zu veran-schaulichen.
Draußen war es frisch und windig. Sie knöpfte den Burberry zu, band sich einen Seidenschal um, suchte Handschuhe heraus und entschied sich gegen die Umhängetasche. Sie hatte sie so viele Stunden mit sich geschleppt, daß sie nun Schmerzen in der Schulter bekam. Also steckte sie nur Geld und ein Taschentuch ein. Sie hatte nicht vor, sich Notizen zu machen, sondern wollte lediglich im Tower herumwandern.
Wie üblich wimmelte es in den Höfen und Räumen von Touristen. Fremdenführer erläuterten in vielen Sprachen die Geschichte des imposanten Bauwerks. »Als Wilhelm der Eroberer 1066 zum König von England gekrönt wurde, begann er sofort, London gegen Angriffe zu befestigen. Ursprünglich wurde der Tower als Fort geplant und gebaut, aber später mehrfach erwei-tert.«
Obwohl ihr das alles bestens bekannt war, folgte Judith der Gruppe auf ihrem Rundgang. Die Räumlichkeiten, in denen Sir Walter Raleigh dreizehn Jahre gefangengehalten wurde, erregten allgemeines Interesse. »Viel größer als mein Studio«, kommentierte eine junge Frau.
Eine weit bessere Unterbringung, als sie die meisten armen Teufel hatten, dachte Judith. Sie zitterte vor Kälte, wurde von Angst und Panik ergriffen und lehnte sich an die Wand. Sieh zu, daß du hier rauskommst, sagte sie sich. Mach dich nicht lächerlich, dachte sie gleich darauf, genau das will ich ja in dem Buch verdeutlichen.
Die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten geballt, ging sie mit der Gruppe weiter in den Wakefield-Tower, wo die Kronjuwelen ausgestellt waren. »Seit den Tudors wurden in diesem Turm adlige Gefangene untergebracht«, erklärte der Fremdenführer. »Während der Cromwell-Ära ließ das Parlament den Krönungsschmuck einschmelzen und die Steine verkaufen. Ein echter Jammer. Nach der Rückkehr von Karl II. suchte man die alten Regalien zusammen und fertigte neuen
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