Das Anastasia-Syndrom
angesprochen hat, habe ich’s nicht gehört.«
»Um welche Zeit war das?«
»Gegen 10 Uhr 30, glaube ich.«
»Miß Chase, versuchen Sie uns zu helfen. Sie sind sicher eine scharfe Beobachterin, auch wenn Sie durch Ihr eigenes Vorhaben absorbiert waren, wie Sie sagen. Irgend jemand hat es geschafft, am Nachmittag eine Bombe reinzuschmuggeln. Eine von diesen Plastikvorrichtungen, aber ziemlich schludrig zu-sammengeschustert, soweit wir beurteilen können. Das Ding kann höchstens ein paar Minuten dagelegen haben, bevor es detonierte. Als der Aufseher den Sack bemerkte und aufhob, kam auch schon der Knall. Haben die Wachen vor der Schatz-kammer gut aufgepaßt, als Ihre Handtasche die Sicherheitskon-trolle passierte?«
»Ich hatte gestern keine Handtasche dabei, mir nur etwas Geld in die Regenmanteltasche gesteckt.« Judith lächelte. »Die letzten drei Monate habe ich überall in England recherchiert und meine Schulter mit dem Schleppen von Büchern und Kameras etwas überstrapaziert. Gestern sah ich, daß ich nur Geld fürs Taxi und für die Eintrittskarte brauchen würde, deshalb kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.«
Sloane erhob sich. »Darf ich Ihnen meine Karte dalassen?«
fragte er. »Gelegentlich nehmen wir ja etwas wahr und vergraben es im Unterbewußtsein. Wenn wir dann unser Gedächtnis, ähnlich wie einen Computer, auf eine Art Spurensuche pro-grammieren, werden oft erstaunlich nützliche Informationen zutage gefördert. Ich bin sehr froh, daß Sie zur Zeit des Sprengstoffanschlags nicht im Tower waren.«
»Ich habe den ganzen Nachmittag über wieder am Schreibtisch gesessen«, erklärte Judith und deutete auf das Arbeitszimmer.
Sloane bemerkte die neben der Schreibmaschine aufgestapel-ten Manuskriptseiten. »Sehr beeindruckend. Ich beneide Sie um Ihre Begabung.«
Mit flinken Augen registrierte er den Grundriß der Wohnung, als sie zur Tür gingen. »Nach der Wahl, wenn sich alles wieder normalisiert hat, würde meine Familie sich freuen, Sie kennen-zulernen.«
Er weiß Bescheid über Stephen und mich, dachte Judith. Lä-
chelnd streckte sie ihm die Hand hin. »Das wäre reizend.«
Ein rascher Blick nach unten. Jack Sloane entdeckte kaum sichtbare Spuren einer alten Narbe oder auch eines Muttermals an ihrer rechten Hand, aber nichts, was den von Watkins be-schriebenen purpurrot leuchtenden Mondsichel glich. Eine besonders nette Frau, dachte er, als er die Treppe hinunterlief. Als er die Haustür öffnete, kam ihm eine bejahrte Frau entgegen, schwer bepackt mit Einkaufstaschen. Sie keuchte. Der Lift war außer Betrieb, wie Sloane wußte.
»Kann ich Ihnen das tragen?« fragte er.
»O vielen Dank«, japste die Frau. »Ich hab gerade überlegt, ob ich die drei Treppen schaffe, wenn wieder mal weit und breit keine hilfreiche Seele zu sehen ist.« Dann musterte sie ihn scharf, ob er etwa mit diesem Trick nur in ihre Wohnung gelangen wollte.
Jack Sloane erriet ihre Gedanken. »Ich bin ein Freund von Miß Chase im dritten Stock und komme gerade von ihr«, erklär-te er.
Die Frau strahlte. »Ich wohne direkt gegenüber von ihr. Eine reizende Person. Und so hübsch. Fabelhafte Schriftstellerin.
Wußten Sie, daß Sir Stephen Hallett bei ihr verkehrt? Ach, das hätte ich nicht sagen sollen. Das war sehr unfein.«
Sie stiegen langsam die Treppe hoch, Jack trug die Taschen.
Sie machten sich miteinander bekannt. Martha Hayward, Mrs.
Alfred Hyward, stellte sie sich vor. Aus ihrer leicht umflorten Stimme schloß Jack, daß der Ehemann nicht mehr lebte.
Er deponierte die Einkäufe auf Mrs. Haywards Küchentisch und wandte sich zum Gehen. Beim Abschied kam ihm, völlig unerwartet, die Frage über die Lippen: »Trägt Miß Chase gele-gentlich ein Cape?«
»Aber ja doch«, erwiderte Mrs. Hayward. »Oft hab ich sie ja nicht damit gesehen, aber es ist ein sehr schönes Stück. Als ich es letzten Monat bewunderte, sagte sie, sie hätte es eben bei Harrods gekauft.«
Reza Patel las die Morgenzeitungen in der Praxis. Die Kaffee-tasse in seiner Hand klirrte, als er die Fotos von toten und verletzten Opfern des Sprengstoffanschlags im Tower betrachtete.
Glücklicher- oder unglücklicherweise hatte die Bombe ihr Ziel verfehlt. Sie lag an einer Stelle, von der aus sie unter den Kro-nen und dem Krönungszubehör ein Höchstmaß an Schaden an-gerichtet hätte, doch als der Aufseher sie aufhob, verlagerte sich der Explosionsdruck, so daß zwar die Glasvitrinen zersprangen, die kostbaren Exponate dagegen
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