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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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Barnes trat ans Fenster und blickte hinaus, ein typischer Reflex, den seine Leute bestens kannten. Er analysierte die Situation und wägte ihre Brisanz sorgfältig ab. Als Innenminister war Sir Stephen im Kabinett zuständig für die Justiz. Zum Premier gewählt, würde Sir Stephen einer der mächtigsten Männer der Welt. Fiele jetzt auch nur der leiseste Schatten eines Skandals auf ihn, könnte sich das durchaus auf die Wahlen auswirken.
    »Was hat der Aufseher genau gesagt?« erkundigte er sich bei Lynch.
    Lynch zog sein Notizbuch heraus. »Ich hab’s aufgeschrieben, Sir. ›Judith Chase. Wieder da. Narbe‹.«
    Judiths Bild wurde aus dem Schutzumschlag herausgeschnit-ten und Rob Watkins gezeigt. »Da ist sie!« rief er, dann schwankte er, ließ die konsternierten Beamten warten. »Nein.
    Sehnse sich bloß mal die Hände an. Keine Narbe. Und dann der Mund, und die Augen. Irgendwie anders. Also, da ist schon ’ne Ähnlichkeit. Könnten Schwestern sein, die beiden.« Er warf das Bild beiseite, zuckte mit den Achseln. »Hätte nichts dagegen, mit der da schwofen zu gehen. Könnten Sie das nicht einfä-
    deln?«

    Judith stellte den Fernseher für die Spätnachrichten an und hörte die Schreckensmeldung über den Sprengstoffanschlag im Tower. »Ich war heute vormittag dort«, berichtete sie Stephen entsetzt, als er kurz darauf anrief. »Ich wollte bloß etwas von der Atmosphäre mitkriegen. Die armen Menschen, Stephen. Wie kann jemand nur so brutal sein?«
    »Das weiß ich auch nicht, Darling. Ich danke Gott, daß du nicht in dem Raum warst, als die Bombe detonierte. Wenn meine Partei gewinnt und ich Premierminister werde, setze ich die Todesstrafe für Terroristen durch, zumindest bei Anschlägen, die Todesopfer fordern.«
    »Nach dem heutigen Vorfall wirst du breitere Zustimmung finden, auch wenn ich dir trotzdem nicht beipflichten kann.
    Wann bist du wieder in London, Darling? Du fehlst mir.«
    »Erst in etwa einer Woche, aber wenigstens sind wir beim Countdown, Judith. Noch zehn Tage bis zur Wahl, und dann fängt unser gemeinsames Leben an, so oder so.«
    »Du wirst gewinnen, und ich bin schon bei der redaktionellen Feinarbeit. Die Passagen, die ich nachmittags über den Tower geschrieben habe, sind mir wirklich sehr gut gelungen. Ich glaube, ich konnte darin einen lebendigen Eindruck vermitteln, wie einem Gefangenen im Tower zumute war. Ich genieße es, wenn bei der Arbeit alles läuft. Da verliere ich jedes Zeitgefühl und bin völlig versunken.«
    Nach dem Gespräch mit Stephen ging Judith ins Schlafzimmer und stellte überrascht fest, daß die Türen des für Lady Ardsleys Garderobe reservierten Kleiderschrankteils einen Spalt breit offenstanden. Vermutlich sind sie von Anfang an nicht richtig zugemacht worden, dachte Judith, drückte sie fest zusammen, bis sie das Schloß klicken hörte. Den billigen Rucksack, der hinter Lady Ardsleys konventionellen Kleidern und Schneider-kostümen halb versteckt lag, bemerkte sie nicht.

    Am nächsten Vormittag um zehn ertönte zu Judiths Erstaunen der Summer der Gegensprechanlage in der Diele. Es gehört zu den Vorzügen von London, daß nie jemand hereinschneit, ohne zuvor angerufen zu haben, dachte sie. Widerstrebend stand sie vom Schreibtisch auf und ging hinaus, um sich zu erkundigen.
    Der Besucher war Jack Sloane, Stephens Freund aus Devonshire, der um ein kurzes Gespräch bat.
    Ein attraktiver Mann, dachte sie, während sie ihm beim Kaf-feetrinken beobachtete. Ein Mittvierziger. Sehr britisch mit dem blonden Haar und den blauen Augen. Ein bißchen schüchtern, wie so viele wohlerzogene Engländer. Sie hatte ihn mehrmals auf Fionas Partys getroffen und wußte, daß er bei Scotland Yard war. Konnte es sein, daß er sich durch Gerüchte über sie und Stephen veranlaßt sah, sie amtlich zu überprüfen? Sie wartete, überließ ihm die Gesprächsführung.
    »Schrecklich, dieser Sprengstoffanschlag gestern im Tower«, sagte er.
    »Grauenhaft. Ich war vormittags dort, nur ein paar Stunden, ehe es passierte.«
    Jack Sloane beugte sich vor. »Miß Chase, Judith, wenn ich Sie so nennen darf, deshalb bin ich hergekommen. Einer der Aufseher bei den Kronjuwelen hat Sie offenbar erkannt. Hat er Sie angesprochen?«
    Judith seufzte. »Ich weiß, das hört sich jetzt idiotisch an. Ich bin in den Tower gegangen, weil in einem Kapitel meines neuen Buches die Atmosphäre nicht ganz stimmig wirkte. Wenn ich mich konzentriere, bin ich leider ziemlich in mich gekehrt. Falls er mich

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