Das Anastasia-Syndrom
nur im Profil, mehr oder minder konturiert. Ihr Gesicht wurde von der Kapuze fast ganz verdeckt, schone ehe sie die Videokamera bemerkte und sie tiefer hinunterzog. Sämtliche Fotos mit ihr hatte man vergrößert und ihr Bild herauskopiert.
»Etwa 1,70m«, bemerkte Commander Sloane. »Sehr schlank, oder? Zwischen 50 und 60 kg, mehr nicht. Dunkles Haar und ein finsterer Zug um den Mund. Hilft nicht viel weiter, stimmt’s?«
Inspector David Lynch nahte mit flottem Schritt. »Ich glaube, hier haben wir etwas Brauchbares, Sir. Weitere Aufnahmen, eben reingekommen. Würden Sie sich die mal anschauen?«
Die neuen Bilder zeigten die Frau im Cape, wie sie am Denkmalssockel von Karl I. einen Kranz niederlegte. Die Kamera hatte eine Ecke des braunen Päckchens unter dem Kranz mit-fotografiert.
»Bravo!« lobte Sloane.
»Das ist längst noch nicht alles«, erklärte Lynch. »Wir haben uns auf sämtlichen Baustellen in der Umgebung umgehört. Ein Polier gab uns den Wink, daß eine sehr attraktive Frau im dunklen Cape mit einem von seinen Leuten geflirtet und daß dieser Rob Watkins damit angegeben hat, sie würde zu ihm auf die Bude kommen.« Lynch legte genüßlich eine Kunstpause ein.
»Wir haben eben seine Wirtin befragt. Ist noch keine zehn Tage her, da hatte er Damenbesuch. Sie erschien an zwei Abenden hintereinander gegen 18 Uhr und blieb etwa zwei Stunden bei ihm. Dunkles Haar, dunkle Brille, Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, und sie trug ein dunkelgrünes Cape mit Kapuze, ein sehr teures, wie die Wirtin erzählt. Dazu ebenfalls sehr teure Lederstiefel, eine riesige Umhängetasche. Mit den Worten der Vermieterin hielt sie sich wohl für die Königin persönlich, sehr von oben herab.«
»Wir sollten lieber gleich mal mit Mr. Rob Watkins plaudern«, meinte Sloane. Und zu einem Assistenten gewandt:
»Nehmen Sie alle Vergrößerungen von der Lady im Cape runter. Mal sehen, ob der Knabe sie ohne diese Hilfestellung in der Menge erkennt.«
»Noch ein interessanter Hinweis«, ergänzte Lynch. »Die Wirtin sagt, die Frau war zweifellos Engländerin, hatte aber irgendwas Komisches an sich – der Akzent oder die ganze Art oder die Sprechweise.«
»Was soll das heißen?« fuhr Sloane ihn an.
»Soweit ich’s verstanden habe, war’s der Tonfall , der seltsam wirkte. Die Wirtin sagt, es hörte sich so an wie in den alten Filmen, in denen die Leute Wörter gebrauchen wie ›wahrlich‹.«
Sloanes Gesichtsausdruck quittierte er mit einem Kopfschütteln. »Bedaure, Sir. Ich kapier’s auch nicht.«
***
Am 10. Februar erfolgte die langerwartete Ankündigung der Premierministerin. Sie werde sich zur Königin begeben und sie um Auflösung des Parlaments ersuchen. Eine Wiederwahl strebe sie nicht an.
Am 12. Februar wurde Stephen zum Parteivorsitzenden der Konservativen gewählt. Am 16. Februar löste die Königin das Parlament auf, und der Wahlkampf begann.
Wenn sie ihn sehen wolle, schalte sie ihren Fernseher ein, witzelte Judith. Für gewöhnlich trafen sie sich in seiner Wohnung, sofern es sich einrichten ließ. Sein Wagen holte sie dann ab, und Rory fuhr zum Hintereingang des Hauses. Auf diese Weise konnten sie dem Ansturm der allgegenwärtigen Medien-vertreter entgehen.
Dennoch empfand Judith es als glückliche Fügung, daß Stephen im Wahlkampf unterwegs war, während sie ihr Buch voll-endete. Ungeduldig wartete sie auf das Eintreffen der Geburtsurkunden, ihre Stimmung schwankte zwischen Hoffnung und Angst. Wenn sie nun eine Sarah Parrish nur als Kind gekannt hatte? Was dann?
Sie wußte, als Ehefrau des britischen Premierministers würde man sie immer und überall erkennen. Dann wären ihr private Unternehmungen wie diese nicht mehr möglich.
Stephen rief sie regelmäßig frühmorgens und nochmals am späten Abend an, oft ganz heiser von den vielen Wahlreden. Sie spürte, wie erschöpft er war. »Es wird wesentlich knapper, als wir annahmen, Darling«, erklärte er. »Labour kämpft hart, und die Konservativen sind über ein Jahrzehnt an der Regierung, so daß viele gegen sie und damit für einen Wechsel stimmen werden.« Das klang so sorgenvoll, daß Judith ihm seinen Egoismus, ihr bei den Nachforschungen nach ihrer Herkunft jede Hilfe zu verweigern, völlig verzieh. Sollte er die Wahl verlieren, wäre seine Enttäuschung nur vergleichbar mit dem Schmerz, den sie empfinden würde, wenn sie plötzlich feststellen müßte, daß sie nicht mehr schreiben konnte, daß ihr diese Gabe abhanden gekommen war…
Es
Weitere Kostenlose Bücher