Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
sie darum bat. Ich drehte mich um und schaute zu Sandy, der immer noch neben dem Korb stand, langsam mit dem Schwanz wedelte und nun sein Frauchen fest anstarrte. Dieses aber schüttelte den Kopf und sagte versuchsweise »Nein, Sandy, hol es dir selbst«. Während sie das tat, bewegten sich seine Lefzenwinkel etwa drei Millimeter nach vorn. (Klingt das nach einer geringfügigen Bewegung? Nehmen Sie ein Lineal zur Hand und bewegen Sie Ihren Finger über drei Millimeterstriche. Sie werden erstaunt sein, welch deutliche Bewegung das ist).
Diese kleine Bewegung sagte mir so viel wie eine blinkende Leuchtreklame. Gelobt sei seine miese kleine Seele dafür, dass er mir diese Vorwarnung gab. Ich schaffte es noch, ein Körnerkissen vor Sandy auf den Boden zu schmeißen und ihn zu stoppen, bevor er sich auf sein Frauchen stürzen konnte. Als das Kissen vor ihm landete, war sein Blick starr und seine Lefzenwinkel waren ganz nach vorn gezogen, die Zähne gefletscht und zum Beißen bereit. Weil ich die Lefzenwinkel sich nach vorn bewegen sah, konnte ich seine nächste Handlung vorhersagen und ihn aufhalten, bevor er sein Frauchen anfiel. In den kommenden Monaten lernte Sandy viel über das Thema Geduld und seine Besitzerin lernte, eine wohlwollende Führungspersönlichkeit zu sein. Außerdem lernte sie, Sandys Lefzenwinkel mit Adleraugen zu beobachten.
Ich hoffe, Sie haben nicht so einen zwingenden Grund wie Sandys Besitzerin, warum Sie die Signale Ihres Hundes zu lesen lernen sollten, aber die Lefzenwinkel Ihres Hundes können Ihnen viel davon verraten, was in seinem pelzigen Kopf vorgeht. Für Hunde trifft das Gleiche nicht zu. Wir Menschen ziehen unsere Mundwinkel zum Lächeln zurück und, auf das sehr Allgemeine reduziert, liegt bei uns dafür ebenso wie bei den Hunden ein Gefühl zugrunde. Bei Hunden bedeutet das Zurückziehen der Lefzenwinkel Unterwerfung oder Angst. Manchmal hat es beim Menschen eine ähnliche Bedeutung: Manche Wissenschaftler sind der Meinung, dass sich das menschliche Lächeln aus der Unterwerfungsmimik entwickelt hat, die wir bei vielen Primatenspezies beobachten können. Glückliches Lächeln ist uns allen vertraut, aber überlegen Sie einmal, wie oft Sie schon Lächeln gesehen haben, die in irgendeiner Form mit Nervosität zu tun hatten. Vielleicht haben Sie genau wie ich schon einmal gelächelt und dabei gewünscht, Sie würden es nicht tun – wenn Sie zum Beispiel ängstlich auf Prüfungsergebnisse warteten oder eine Autoritätsperson unterwürfig um einen Gefallen baten. Primaten haben eine ähnliche Ausdrucksart, die in gewisser Weise einem nervösen oder unterwürfigen »Lächeln« ähnelt und »open mouth bared tooth display« (dt.: Offener Mund mit Zeigen der Zähne) genannt wird. Sie wird mit entspanntem, freundlichen Sozialkontakt in Verbindung gebracht. Wenig überraschend ist, dass sie häufiger bei Spezies mit relativ entspannten sozialen Beziehungen als bei solchen mit strengen Dominanzhierarchien beobachtet werden kann. Ich möchte behaupten, dass ein Lächeln in gewisser Hinsicht beides bedeuten kann: Soziale Unterwerfung geht selten mit unfreundlicher Aggression einher, und so kann das Lächeln einem Fremden signalisieren, dass Sie ihm gegenüber keine bösen Absichten hegen.
Primaten (Menschen, Schimpansen und Rhesusmakaken eingeschlossen) können anderen mit nach vorn gezogenen Mundwinkeln Bedrohung signalisieren, aber wir können unsere Mundwinkel auch als Ausdruck freudiger Überraschung nach vorn ziehen. (Denken Sie daran, wie Ihr Gesicht aussieht, wenn Sie zu einem Baby oder einem Hund »sprechen«: Ihre Augenbrauen heben sich, Ihre Augen weiten sich und Ihr Mund rundet sich, die Mundwinkel bewegen sich nach vorn als ob Sie »Ohhhhh« sagen würden. Bei einem Hund ist das aber gewöhnlich ein Zeichen für Ärger und wird »agonistic pucker« (dt.: agonistisches in Falten ziehen) genannt. Jeder Hund, der mich mit solchen vorgezogenen Lefzenwinkeln anbellt, hat meine vollste Aufmerksamkeit. Dieser Hund befindet sich nicht in Verteidigungshaltung; sondern er ist bereit und willens, seiner Drohung Taten folgen zu lassen – nicht ängstlich, sondern mit Bestimmtheit.
Eine der Methoden, mit der ich das Wesen von Hunden beurteile ist, ihnen ein mit Futter gefülltes Spielzeug zu geben und ihre Lefzenwinkel zu beobachten, wenn ich damit beginne, es ihnen wieder wegzunehmen. (Ich benütze jetzt dazu einen künstlichen Arm – dank der großartigen Idee einer Hundetrainerin,
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